»Es tut uns leid wegen der Katze. Dürfen wir jetzt bitte nach Hause«, erklang die zaghafte Stimme von Thomas hinter ihrem Rücken.
»Ihr«, fauchte Dedra, indem sie zu ihnen herumfuhr. »Ihr widerlicher, undankbarer Abschaum aus diesem dreckigen, dreimal verfluchten Dorf.«
Die Worte selbst drangen gar nicht zu Thomas durch. Er sah nur das Gesicht der Alten und den Ausdruck in ihren Augen. Der Junge ergriff die Hand seiner Schwester und zog sie hinter sich durch den Mittelgang der Hütte entlang. Sie rannten zur vorderen Tür, er stieß sie auf und wenige Augenblicke später liefen sie den Waldweg entlang. Wie von Dämonen gejagt rannten sie in Richtung der Straße, die zum Dorf führte. Hinter ihnen befand sich freilich nichts als die kühle, feuchte Luft dieses grauen Morgens.
Die alte Frau, die bis zum heutigen Tage über ein halbes Jahrhundert lang die Kräuterfrau von Flusswalde gewesen war, stand nach wie vor auf ihrer Veranda. Die Trauer und das Gefühl kalter Leere in ihrem Inneren verblassten und machten dem Zorn platz. Aber in ihr brodelte mehr als nur die Wut auf einen alten, bösartigen Mann, der ihr das Einzige genommen hatte, das ihr lieb und teuer gewesen war. Ein Teil von ihr wusste sehr gut, dass nicht das ganze Dorf dafür verantwortlich war, was dieser eine Mann getan hatte. Und doch breitete sich der Zorn auf den Ort und jeden seiner Bewohner aus wie ein dunkles Feuer in ihrem Herzen.
Der vernünftige Teil wusste, das Dedra den Menschen hier nicht nur geholfen, sondern auch jeden in Unglück gestürzt hatte, der ihr in die Quere gekommen war. Diese Stimme der Vernunft wusste ebenfalls, wer und was sie war. Aber diese Stimme verstummte nicht einfach nur, sie lag ebenso im Sterben, wie die arme Grumpel es noch vor wenigen Momenten getan hatte.
Ein uralter, schwarzer Hass brach sich aus ihrem tiefsten Inneren Bahn, fraß sich durch ihre Eingeweide und verdrängte alles andere. Die alte Frau gab einen Ton von sich, der dem Fauchen einer großen Katze nicht unähnlich war, und ballte die Hände zu Fäusten. Diese Bewegung hatte sie mit ihren arthritischen Gelenken seit über zwanzig Jahren nicht mehr bewerkstelligen können. Ihre langen, schmutzigen Fingernägel brachen in ihren Fäusten und die schartigen Kanten schnitten ihr in die Handflächen. Dünne Fäden dunklen Blutes rannen aus ihren Fäusten, als sie diese langsam hob. In ihrer Rechten mischte sich ihr Blut mit dem ihrer toten Katze.
Bilder flammten vor ihrem inneren Auge auf und flogen daran vorbei. Wie sie die kleine, zerschundene Katze halbtot im Wald gefunden hatte. Ein zerkratzter, zitternder, winziger Körper. Flauschiges, dunkles Haar und rehbraune Augen, kleine Hände, die nach ihr griffen. Aber mussten es nicht Pfoten sein, statt Hände? Hungrige Schreie nach Futter. Oder nach Milch? Ein Ausdruck tiefster Verwirrung und Erstaunens legte sich auf das Gesicht der alten Frau, der sie für einen Moment wie eine völlig Schwachsinnige aussehen ließ.
Dann brach ein Schrei aus ihrer Kehle, so voll von Verzweiflung, dass er fast ein Schluchzen war. Erinnerungen an schreiende und sterbende kleine Kinder und Katzen verschwammen, als sie kreischend gegen den alten Schaukelstuhl trat. Die tote Grumpel, die noch darauf gelegen hatte, rutschte herunter und blieb auf den kalten Planken der Veranda liegen. Dedra, die ebenso wenig gespürt hatte, wie sich ihr Knöchel bei dem Tritt stauchte, wie sie den brechenden kleinen Zeh bemerkt hatte, schaute auf den Kadaver hinab. Sie packte den Körper mit einer blutenden Hand und warf ihn achtlos durch die offene Tür in die Hütte. »Kein Kind, du bist nicht meines«, fauchte sie leise.
»Nicht mein Kind, du nicht, niemand. Ich bin keine Mutter, ich hatte keine Mutter, nie.« Ihr Gesicht war zu einer Fratze aus urtümlichem Zorn und Hass verzogen, die Augen weit aufgerissen und glasig. Vor ihrem inneren Auge erschienen die Gesichter der Menschen, die sie seit ihrer Ankunft in Flusswalde getroffen hatte. Sie sah Hunderte von Männern, Frauen und Kindern, ein Kommen und Gehen, ein Geborenwerden und Sterben über fünf Jahrzehnte hinweg. Ein Bilderwirbel in die Vergangenheit vor fünfzig Jahren, dann noch weiter, vor sechzig, siebzig, vor hundert Jahren. Nicht mehr Flusswalde, fernere Orte und andere Menschen, andere Kinder und Mütter. Sie humpelte in ihre Hütte und murmelte leise vor sich hin, mal in dieser Sprache, mal in jener.
Mit fahrigen Händen öffnete sie die Tür, neben der noch die Decken lagen, unter denen die Kinder geschlafen hatten. Ihre zerschundenen, blutenden Hände fanden ohne ihr Zutun die richtigen Tiegel, Gläser und Töpfe in ihrer alten Hexenküche. Diese kleinere Feuerstelle war noch nie dazu benutzt worden, um eine Mahlzeit zuzubereiten. Hier stellte sie nur Tränke und Medizin her.
Sie mischte die Flüssigkeiten mit schlafwandlerischer Sicherheit. Am Ende hatte sie etwas Dünnflüssiges in einem blassblauen, unnatürlichen Farbton. Winzige Teilchen schwammen in der Flüssigkeit, so als hätte jemand Sand hineingestreut. Nur das es keinen Sand gab, der in rötlichem Gelb matt schimmerte.
Sie verstaute ihre Mixtur in einem Flakon und steckte ihn in eine Tasche ihres Gewandes. Dann kippte sie die Regale um, eines nach dem anderen. Bald erfüllte ein beißender, widernatürlicher Geruch die Luft. Regal um Regal fiel, zahllose Flaschen, Tiegel und Töpfe zersprangen am Boden. Nachdem sie damit fertig war, tat sie das Gleiche in dem Raum mit dem großen Kamin. Schließlich übergoss sie alles mit Öl, das sie in einer alten Weinamphore aufbewahrt hatte.
An der Eingangstür warf sie das glühende Holzscheit, das sie mitgenommen hatte. Es landete mit einem dumpfen Laut in dem Chaos, das einmal ihr Zuhause gewesen war.
Sofort schlugen Flammen hoch und sie fühlte, wie ein brennender Schmerz ihre Schulter erfasste. Fluchend warf sie sich hin und wälzte sich am Boden. Sie hatte Glück, dass es nur ein paar Tropfen des Öles gewesen waren, die den Weg auf ihre Schultern und in ihr Haar gefunden hatten.
Mühsam erhob sich die Greisin und schüttelte sich verkohlte Haarreste aus dem Gesicht. Sie blieb einen Moment stehen und schaute stumm in die Flammen. Vor ihr verbrannte der Ort, an dem sie das letzte halbe Jahrhundert in Zufriedenheit und so etwas wie stillem Glück verbracht hatte. In ihrem einzigen echten Zuhause, an das sie sich erinnern konnte, brannte auch die alte Katze. Das Einzige, was sie in diesen Jahren liebgewonnen hatte.
Dedras Augen begannen zu zucken, als wieder Bildfetzen in ihrer Erinnerung auftauchten. Wunden, die sie verbunden hatte, Menschen, die sie heilte und andere, die sie verfluchte. Immer wieder diese Frau mit den dunklen Haaren und den rehbraunen Augen. Diese kleine Frau. Mutter? Meine Mutter? Oder mein Kind? Oder ich selbst? Oh Grumpel, meine liebe, arme Grumpel, warum hast du mich allein gelassen? Ich hatte doch nur dich auf der Welt. Noch einmal rannen Tränen über das zerfurchte, schmutzige Gesicht der alten Frau. Sie weinte einen Moment lang leise aber aus tiefstem Herzen, während vor ihr die Flammen tanzen.
Der kleine, sterbende Teil der Vernunft bettelte darum, das Fläschchen mit der unheiligen Flüssigkeit ins Feuer zu werfen und ins Dorf zu gehen, um mit den Menschen zu reden. Um Hilfe zu bitten. Der alte Brent würde bestraft werden, das stand außer Frage. Zu oft schon hatte er solche schändlichen Dinge getan. Die Dörfler würden ihr eine neue Hütte bauen und vielleicht konnte sie noch für ein paar Jahre ein anderes Kätzchen bei sich aufnehmen. Dann brach sich der alte, schwarze Hass erneut Bahn und die dünne Stimme verstummte für immer. Mit ihr versiegten auch die Tränen und das Schluchzen hörte abrupt auf. Das kummervoll verzogene Gesicht der Greisin entspannte sich und wurde völlig ausdruckslos. Was die Kräuterfrau an Liebenswürdigkeit und Güte übriggehabt haben mochte, verbrannte mit der Leiche ihrer Katze in der Ruine ihres gemeinsamen Heims zu Asche.
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