Ich strampelte wie verrückt mit den Beinen, um wieder einen festen Halt unter meinen Füßen zu finden. Leider erwies sich das als nicht so einfach. Der Waldboden war durch das stehende Wasser aufgeweicht und rutschig geworden. Herabfallende Blätter hatten das ihre dazu beigetragen, dass der Untergrund eigentlich kein richtiger Untergrund mehr war. Ich schaffte es nur, den lehmigen, blättrigen Boden unter mir weiter aufzuwühlen, so dass er das Wasser um mich herum verdunkelte und mir jegliche Orientierung raubte. Vor meinen Augen vermischten sich Wasser und Schmutz. Einen Moment lang glaubte ich, in der Dunkelheit etwas ausmachen zu können. Eine Art Seil oder Kette? Aber einen festen Halt unter meinen Füßen fand ich nicht. Die Luft wurde mir knapp. Die Schwere meiner Kleidung hielt mich unter Wasser, während ich verzweifelt versuchte, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Hastig fuhr ich mit meinen Fingern zu der Knopfreihe, die meinen gelben Mantel zusammenhielt. Ich musste aus diesen schweren Klamotten heraus, sofort! Du willst dich deines gelben Mantels entledigen?, kreuzte ein kleiner, wahrlich unwichtiger Gedanke mein Gehirn. Was wird dann aus der Prophezeiung? Ich schob diese Verdrehung der Prioritäten auf den Sauerstoffmangel und begann, an dem obersten Knopf einer allzu langen Reihe von Knöpfen zu zerren.
In diesem Moment packten mich zwei riesige Hände um die Hüfte und hoben mich mühelos aus meiner misslichen Lage zurück an die Wasseroberfläche.
Einige lange Augenblicke vergingen, in denen ich nichts anderes tun konnte, als heftig nach der Luft zu schnappen, die mir unter Wasser so außerordentlich gefehlt hatte.
„Entschuldige bitte, das wollte ich nicht“, ertönte eine etwas kleinlaute Stimme direkt neben mir. Hastig drehte ich mich um. Auf einem der zahlreichen grünen Äste saß ein kleines Tier, dessen braunes Fell ebenfalls grünlich wirkte und dessen traurig dreinblickende Augen über einem buschigen weißen Bart saßen.
„Wer bist du?“, fragte ich verdattert, ohne zu bemerken, dass ich dabei war, mich zu wiederholen.
Das kleine schlanke Tierchen war klug genug, mir dieses Versehen nicht unter die Nase zu reiben, obwohl es so aussah, als würden sich seine Augenbrauen leicht anheben.
„Ich bin Meerkatze“, war die plötzlich äußerst hilfsbereite Antwort, die ich mir wohl durch mein Beinahe-Ertrinken verdient hatte.
Ich nickte wortlos, als wäre damit alles geklärt und wandte mich dann an den Riesen, der unserer kleinen Unterhaltung lauschte. Es war nur ein Wort, das ich ihm sagte, aber dieses Wort kam aus meinem tiefsten Herzen, neben dem eine Lunge lag, die immer noch zeitweise nach Luft rang. „Danke.“
Der Riese sah mich beinahe erstaunt an, aber dann zog ein Lächeln über sein bärtiges Gesicht. „Jederzeit gerne“, versprach seine Antwort zukünftige Abenteuer, die mir einen leichten Schauder über den Rücken schickten.
Als ich mich wieder der kleinen Meerkatze zuwandte, hatte ich plötzlich eine schwarze fellige Nase im Gesicht, die sich gegen meine Nase drückte. Erneut blieb mir für einen kurzen Moment die Luft weg.
„Was sollte das denn?“, fragte ich leicht gereizt, als die Nase endlich wieder aus meinem Gesicht verschwunden war.
„Was meinst du?“, fragte ein unschuldiger Blick aus großen braunen Augen. „Bist du denn noch nie von einer Meerkatze begrüßt worden?“
Während ich noch den Kopf schüttelte, sprang der pelzige Waldbewohner bereits auf einen anderen Ast und hangelte sich von dort aus erstaunlich elegant den Arm des Riesen entlang nach oben, um ihm ebenfalls seine Nase in das bärtige Gesicht zu drücken. Das war ein solch wundersamer Anblick, dass ich mir ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen konnte.
Anschließend kam die Meerkatze wieder nach unten gesprungen und klammerte sich an einem Ast fest, der sich höhenmäßig etwa zwischen Riese und mir befand.
„Genug der Höflichkeiten“, erklärte das pelzige Geschöpf und richtete sich auf. Ich fragte mich, ob sich die Höflichkeiten auf den felligen Nasenkuss bezogen oder darauf, dass ich nur fast Bekanntschaft mit dem Tod gemacht hatte. „Was tut ihr hier in Baumwald?“
Baumwald? Die Bezeichnung irritierte mich. Gab es denn auch Wälder, die aus etwas anderem als Bäumen bestanden? Oder wollte ich das lieber gar nicht wissen? Und hatte ich mich nicht schon einmal über diesen merkwürdigen Namen gewundert? Wann war das noch gleich gewesen …?
„Wir sind auf der Suche nach der Tochter des Mondes“, antwortete Riese an meiner Stelle.
„Vielleicht können wir irgendwohin gehen, wo mir das Wasser nicht bis zur Hüfte reicht und uns dort unterhalten?“ Meine Stimme klang leicht frustriert. Und wieso auch nicht. Schließlich war ich schon wieder nass bis auf die Knochen und hatte weder das Glück, dass mir das modrige Wasser nur bis unter die Knie ging noch dass mir ein Ast als wunderbar trockener Sitzplatz dienen konnte. Und das Handtuch, das mir jetzt endlich in dem Metier hätte weiterhelfen können, für das es eigentlich gedacht war, befand sich in meinem nassen grünen Rucksack und hatte höchstwahrscheinlich bereits eine tief gehende Freundschaft mit dem modrigen Waldwasser geschlossen.
Die Meerkatze sah mich mit hoch gezogenen Augenbrauen an.
„Es gibt keinen solchen Ort“, meinte sie dann geduldig, als spräche sie zu einem kleinen Kind. Wo hatte ich diesen Tonfall nur vor kurzem schon des Öfteren gehört?
„Du meinst, der ganze Wald ist überflutet?“
Meerkatze nickte. Das hatte sie doch soeben gesagt. Dann besann sie sich ganz offensichtlich auf unser eigentliches Gespräch. „Sie war hier“, meinte Meerkatze recht übergangslos. „Ich habe sie gesehen.“
„Sie war hier, in diesem Wasser?“ Ich stellte mir ein kleines Kind vor, das bis zum Hals in dem modrigen blau-grünen Gewässer steckte. „Aber hier gibt es Krokodile! Ihr ist doch nichts zugestoßen?“
Der buschige weiße Bart bewegte sich von Seite zu Seite. Ein Kopfschütteln?
„Keines der hier lebenden Tiere würde es wagen, ihr etwas anzutun.“ Meerkatze tat, als spräche sie nur das Selbstverständliche noch einmal aus. Extra für mich. Den Fremden. Wie es schien, musste ich mich wohl überall und nirgends an einen herablassenden Tonfall gewöhnen.
„Wo ist sie jetzt?“, wollte ich wissen. Je schneller ich das verlorene Kind fand, desto schneller würde ich auch wieder an warme Klamotten kommen. Doch ganz so einfach war es anscheinend nicht.
„Sie hat Baumwald wieder verlassen.“ Die Stimme der kleinen Meerkatze klang traurig. „Sie konnte es nicht länger ertragen, die Welt so im Ungleichgewicht zu sehen.“ Der Blick des pelzigen Wesens wanderte in die Ferne. „Sie versuchte, uns zu helfen, doch es gelang ihr nicht.“
Irgendetwas stieß an meine Füße und erinnerte mich daran, dass ich immer noch bis zur Hüfte in Wasser stand. Krokodile waren vielleicht nicht einmal das Gefährlichste, das diese Welt zu bieten hatte. Und in diesem Moment erinnerte ich mich wieder an das, was ich dort unten, während der langen Augenblicke, in denen mir die Luft zum Atmen ausgegangen war, gesehen hatte. Ein Seil … oder eine Kette … das konnte doch wohl nicht stimmen, oder?
Ohne irgendeine Erklärung abzugeben, atmete ich einmal tief ein, hielt dann die Luft an und ließ mich erneut in das grün-blaue Wasser plumpsen. Sofort schalt ich mich einen Narren, weil ich mich zuvor nicht wenigstens meines Mantels und Pullovers entledigt hatte. Aber es gelang mir tatsächlich, die Angst vor einer weiteren traumatischen Erfahrung zumindest zeitweise zu ignorieren und mich auf die Suche nach dem Gegenstand zu machen, den ich zu sehen geglaubt hatte.
Glücklicherweise stellte sich dieser Glaube als überaus real heraus. Es dauerte nicht lange, dann stießen meine Finger an die harten, eisernen Glieder einer gewaltigen Kette. Ich umschloss sie mit beiden Händen und zerrte daran. Nichts rührte sich. Stattdessen überkam mich wieder das bereits bekannte Gefühl der knapp werdenden Atemluft. Schon begann ich zu überlegen, ob ich nicht doch besser wieder versuchen sollte, aufzutauchen, als sich abermals zwei große Pranken um meine Hüfte schlangen und mich problemlos aus dem Wasser hievten. Ich schnappte nach Luft.
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