Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, holte ich tief Luft und setzte meinen Fuß durch das Portal in eine andere Welt. Oder zumindest in den zähen Kaugummi, der uns dorthin bringen würde.
Die kleine Meerkatze mit dem weißen buschigen Bart hangelte sich aufgeregt von Ast zu Ast. Nichts war mehr so, wie es sein sollte. In einer Backentasche versteckt trug sie die leckere Frucht, die sie eigentlich in aller Ruhe hatte verzehren wollen. Aber dann war sie auf andere Tiere gestoßen, die ihr die Nahrung streitig machen wollten. Schlimmer noch – sie war auf Tiere gestoßen, die sie selbst liebend gern zur Beute gemacht hätten.
Todesmutig überwand die kleine Meerkatze einen besonders großen Abstand zwischen zwei Ästen und turnte einen anderen Baum hinunter. So weit, dass sie mit den Pfoten bereits das Wasser berühren konnte, das den Stamm umschloss. Was sie da tat, war gefährlich. Mit dem Wasser waren auch zahlreiche Feinde in den Wald gekommen. Krokodile, Schlangen, Fische. Sie alle freuten sich über die gut bestückte Speisekarte, die sich ihnen neuerdings bot.
Die kleine Meerkatze eilte weiter. Ein Satz, eine Drehung, ein Sprung. Ihr Körper war dazu geschaffen, das Geäst zu beherrschen. In ihm zu leben. Früher war sie auch manchmal auf den Boden geklettert und hatte sich die Welt angesehen, die es dort gegeben hatte. Aber diese Welt war nun verschwunden. Eines Tages hatte das Wasser sie einfach überrollt. Die Ankunft des Wassers war zuerst nicht verwunderlich gewesen. Nach der Regenzeit stieg der Pegel der zahlreichen Flüsse in jedem Jahr so stark an, dass der Wald teilweise überschwemmt war. Teilweise, dachte die kleine Meerkatze, während sie elegant auf einen anderen Baum wechselte. Und für gewöhnlich verschwand das Wasser nach einiger Zeit wieder.
Nicht so dieses Mal. Das Wasser bedeckte den gesamten Waldboden und blieb wo es war. Hungrig. Lauernd.
Und lauernd verhielten sich auch die Tiere, die vor dem Hochwasser in die Bäume geflüchtet waren. Tiere, die dort eigentlich nichts zu suchen hatten. Tiere, denen die kleine Meerkatze nun auf ihrem Weg ausweichen musste.
Sie setzte zu einem neuen Satz an, nutzte ihren langen Schwanz dazu, das Gleichgewicht zu halten, und sprang.
Als ich das Portal verließ, stand ich in Wasser. Keine Pfütze. Auch kein leise vor sich hin plätschernder Bach. Nein, das Wasser, in dem ich stand, war blaugrün, lauwarm, verströmte einen modrigen Geruch und – und das war das Schlimmste an der Sache – es ging mir bis zur Hüfte.
Erschrocken über die plötzliche Nässe, die durch meine Hose und meinen gelben Mantel drang, sah ich mich hastig nach einem Ufer um. Doch es gab keines. Stattdessen erhoben sich aus dem Wasser Baumstämme, die dicht beisammen standen und bis weit in den Himmel ragten.
Grün. Es war alles so grün. Zwischen den Baumstämmen, inmitten der Sträucher und Gräser, die man kaum noch über das blaugrüne Wasser hinausragen sah, stand weit ausladend Farn, dessen mit Wassertropfen besprenkelte Blätter sich schwungvoll aufwärts bogen und es so schafften, dem hüfthohen Wasser zu entrinnen. Und auf dem Farn, auf den Sträuchern und Bäumen, krabbelte und kletterte Moos von solch intensivem Grün, dass selbst das Tageslicht sich davon beeinflussen ließ. Es spiegelte sich in dem hohen Nass wider und entfachte so einen Kampf der Farben. Blau gegen grün, grün gegen blau. Das Wasser stand still. Doch der Wind, der durch die Äste und den Farn strich, brachte deren tanzende Bewegung auch in das wässrige Spiegelbild. Blau gegen grün, grün gegen blau. Je nachdem, welches Bild das Wasser gezwungen war, wiederzugeben, änderten sich auch die Farben.
Kleine braune Pilze, Zeugen der Fruchtbarkeit und Feuchtigkeit des Waldes, tummelten sich auf den bemoosten Baumstämmen.
Ich blickte nach oben, aber durch die grünen Baumwipfel war nicht ein winziges Fleckchen Himmel zu sehen. Wie ein gewaltiges Zelt dehnte sich der Wald über dieser Welt aus.
Der grüne Anblick überwältigte mich schier. Die Einfarbigkeit hatte etwas Unangenehmes, war aber gleichzeitig höchst willkommen, versprach sie doch pures Leben.
Nach meinem Aufenthalt in der Steinwüste erschien mir dieser Wald, dieser grüne Flecken Erde, wie der Inbegriff der Wiedergeburt. Also ignorierte ich das seltsam nagende Gefühl, das begann, sich in der Gegend auszubreiten, wo ich aus früheren Erfahrungen meinen Instinkt vermutete. Instinkt, Unbewusstes, Feuermelder – so etwas eben. Ich hätte es nicht ignorieren sollen.
Um diesen ersten Eindruck von der Welt, in der ich gelandet war, zu gewinnen, genügten Sekunden. Und mehr Zeit hatte ich auch nicht.
Das weit aufgerissene Maul mit den spitzen Zähnen, das ganz plötzlich auf mich zugeschossen kam, gehörte zu einem gigantischen Krokodil, das in dem türkisfarbenen dunklen Wasser erst in mein Sichtfeld kam, als es schon zu spät war.
Na ja, es wäre zu spät gewesen. Wäre in diesem Moment nicht ein Riese hinter mir durch das gläserne Portal gekommen, der recht unsanft gegen mich stieß – was stand ich auch immer noch träumend im Weg herum! – und mich dadurch versehentlich aus dem Gefahrenbereich der Krokodilszähne beförderte.
Der darauffolgende Zusammenstoß war gewaltig. Das Krokodil, das sich so plötzlich um seine Beute betrogen fand, war nicht mehr in der Lage, seinen Angriff der veränderten Sachlage anzupassen und rammte den Riesen mit voller Wucht. Doch der schwankte nicht einmal. Verwundert blickte er nach unten und betrachtete eher erstaunt denn verängstigt das Wasser, das ihm fast bis zu den Knien reichte und das gefährliche Reptil, das ein Gesicht zog, als hätte es sich bei dem Zusammenstoß mit dem Riesen gleich mehrere Zähne ausgebissen. Und vielleicht war dem auch so.
Jedenfalls machte es genauso schnell kehrt, wie es gekommen war und verschwand mit einem letzten, traurig anmutenden Schlag seines schuppigen Schwanzes im modrig riechenden Wasser zwischen den Bäumen.
„Das war super!“, erklang eine aufgeregte Stimme aus der Höhe. Ich zuckte zusammen und erwartete den nächsten bösartigen Angriff von oben. Was mochte wohl auf das Krokodil noch folgen? Ein Greifvogel? Ein Panther? Ein Flugsaurier? Wer wusste schon, was in diesem so ursprünglichen Wald einer anderen Welt wieder zum Leben erwacht war! Überall und nirgends konnte sicher so einiges existieren, das man sich in meiner Welt nicht einmal mehr vorstellen konnte.
Angestrengt versuchte ich, mit meinen Blicken die grün bemoosten Äste zu durchdringen, jedoch ohne Erfolg. Es war kein Flugsaurier zu entdecken. Also probierte ich mein Glück auf andere Art und Weise.
„Wer bist du?“, fragte ich den grünen Wald.
„Ich bin ich“, schallte es sofort zurück. Irrte ich mich, oder versuchte da jemand angestrengt, ein Kichern zu unterdrücken?
Etwas hilflos wandte ich mich zu dem großen Gefährten an meiner Seite. Doch der betrachtete nur neugierig die Bäume, aus denen die hohe Stimme zu uns drang, und scherte sich ganz offenbar nicht um die Sinnlosigkeit einer Unterhaltung, die bereits zu Beginn am fehlenden Inhalt scheiterte.
Na toll, dachte ich insgeheim. Ein wortkarger Troll, ein argloser Riese und eine freche, kleine Stimme, die sich nicht zu erkennen geben will. Die Gesellschaft auf dieser wundersamen Reise ließ meines Erachtens nach sehr zu wünschen übrig.
In diesem Augenblick ertönte die Stimme wieder, genau neben meinem linken Ohr. „Und wer bist du?“
Vor Schreck stolperte ich und fiel mitsamt meinem gelben Mantel in das blaugrüne Wasser, in dem wir immer noch standen. Der Mantel sog sich sofort voll und auch mein Wollpullover machte mich abermals darauf aufmerksam, dass ich bei der Wahl meiner Kleidung für dieses Abenteuer möglicherweise ein oder zwei Fehler gemacht hatte.
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