»Wir sind zwei sehr verschiedene Menschen, wenn wir auch im Innersten unseres Lebens den Glauben an die Gnade gemeinsam haben. Doch in unserm Wesen sind wir völlig unterschiedlich. Unser beider Leben wird von zwei Polen aus bestimmt, vom leidenschaftlichen Ich und dem Du sollst der Pflicht. Bei mir wird das Erste vom Zweiten in Schranken gehalten. Bei Dir sollte das Du sollst ein wenig mehr von der wallenden Leidenschaft bewegt werden. Bei mir überwiegt das Impulsive, der starke Trieb, die Wucht des Ich. Bei Dir die stille alltägliche Art, das selbstverständliche Tun, die Nüchternheit. Damit ist uns die Hauptaufgabe für unser gemeinsames Leben gegeben. Du schreibst nie: ,Wie ich so lieb, so lieb Dich hab.‘ Statt dessen: ,Ich bin nicht verliebt in Dich.‘ Kalt, ohne Teilnahme erzählst Du, was Du so erlebt hast, kein Wort von der Freude auf das Wiedersehen, keine Spur von Sehnsucht, so scheint es. Aber ich müsste Dich schlecht kennen, wenn ich Dich danach beurteilen wollte. Ich mit meiner brennenden Leidenschaft, die ich im täglichen Kampfe bremsen muss, mein starkes Verlangen zur Zweiheit.
Ob Ernst deshalb von Dir ging? Ich bleibe bei Dir, liebe Helene. Ein Narr wäre ich und ein Verbrecher, wollte ich Dich von mir schicken. Gott hat uns einander als Aufgabe gegeben. Liebe haben wir beide viel. Ich habe die vom Sturm gepeitschten Wellen, Du hast die tiefe, ruhige See. Uns beiden fehlt etwas, mir die Tiefe, Dir die Leidenschaft. Was ist schwerer zu erwerben? Die völlige Verbindung wird Dir rasch geben, was Dir fehlt. Mein Erwerben muss lange, heiße Arbeit an mir sein.«
Zum Glück waren nicht alle Briefe so. Ich glaube, das hätte mich überfordert. Lieber erfuhr ich, was er machte und worüber er sich freuen konnte. Ab und zu fand ich in einem Brief tatsächlich ein bisschen Humor. Diese waren mir am liebsten, denn so erfuhr ich, dass es ihm gut ging. Humor machte das Leben eindeutig leichter. So berichtete er einmal von einer Zugfahrt nach Wien. Ihm gegenüber saß ein Paar. Er hatte ein wenig im Halbschlaf vor sich hin gedöst und wurde auf ein leises Tuscheln aufmerksam. Durch die Augenlider blinzelnd beobachtete er, wie das Paar seine Beine in den Kniebundhosen betrachtete. Auf eine Zeitung notierte der Mann etwas und schob sie hinüber zu seiner Frau, die daraufhin leise lachte. Nach einer Weile erwachte er demonstrativ, schaute ein wenig aus dem Fenster und tat gelangweilt. Schließlich fragte er sehr freundlich, als hätte er gerade den Einfall gehabt:
»Darf ich mir Ihre Zeitung einmal ausleihen?«
Da konnten sie natürlich nicht nein sagen. Gründlich arbeitete er sich Seite für Seite hindurch und fand schließlich die geschriebene Notiz: »Hat der Mensch Waden!«
1924
Zweiter Versuch
Es wurde Frühling. Von Wien aus fuhr Wilhelm direkt nach Soest ins Predigerseminar. Das war zum Glück nicht weit entfernt von Paderborn, allerdings wurde er dort sehr stark eingespannt. Sonntags konnte er erst am Mittag zu mir kommen und musste Montag in der Frühe schon wieder zurück. Aber immerhin, wir sahen uns fast jeden Sonntag, was für ein Unterschied zu Dänemark und Wien.
Wir beschlossen mit dem Kauf unserer Ringe, unsere Verlobung bekannt zu geben. Die Verwandtschaft wartete schon darauf und kam auf unsere Einladung gerne zusammen. Den 25. Mai 1924 hatten wir als Verlobungstag festgelegt. Vor lauter Vorbereitungen fanden wir erst am späten Abend endlich einen Moment der Stille. Wir legten unsere Hände ineinander und steckten uns die Ringe an.
Am nächsten Tag feierten wir mit der Verwandtschaft. Natürlich hatte ich dafür eine Menge zu tun. Wilhelm beschwerte sich, dass er an diesem Wochenende so wenig von mir hatte. Aber der Kuchen musste ja gebacken, der Tisch gedeckt und der Kaffee gekocht werden. Johanna, unsere langjährige gute Seele, half mir dabei und Martha auch. Vater und Erich rückten die Möbel. Tante Elschen, Mutters Schwester, Onkel Hugo und Tante Jutta kamen aus Rheda und Onkel Robert und Tante Gerda aus Bethel. Von Wilhelms Seite kam seine ganze Familie, seine Eltern Fritz und Bertha, sein Bruder Alfred mit seiner neuen Braut Anne und seinem kleinen Töchterchen Rita aus erster Ehe, Wilhelms Patenkind. Martha, seine erste Frau starb kurz nach ihrer Geburt. Friedrich mit seiner Braut Emmy, Roland und Heinrich und die Schwestern Erna und Lore. Es wurde ein fröhliches Fest mit einem großen Gedränge in unserm Wohnzimmer.
Wir mussten allerdings noch eine ganze Weile warten, bis wir endlich heiraten konnten. Denn wir hatten fast nichts. Vater wollte uns einen Anschub geben und kaufte uns ein Schlafzimmer und ein Esszimmer mit Schreibtisch. Das war schon mal ein gutes Stück unseres künftigen Zuhauses.
Jetzt gehörte ich mit zur Familie Simon. Meine Schwiegermutter feierte im September ihren 50. Geburtstag und ich fuhr ganz selbstverständlich mit nach Barmen. Wilhelm kam am Abend vorher nach Paderborn, um mich abzuholen. Wir hatten am Abend ein gemütliches und sehr sinnliches Stündchen miteinander. Wieder musste ich als die tiefe, ruhige See, wie er mich genannt hatte, alleine die Verantwortung tragen und ihm als vom Sturm gepeitschter Welle die Grenze aufzeigen. Er war solch ein leidenschaftlicher Mann, dass es mir schwerfiel. Es gefiel ihm nicht, aber anders ging es nicht. Hier wurde ich sehr klar, denn unsere Hochzeit war noch nicht in Sicht. Als er sich wieder besinnen konnte, dankte er mir dafür.
»Danke, dass du mich warten lässt. Auch darin liegt ein Segen. Denn sich sehnen bringt Leben, ist Leben. Haben ohne Sehnsucht ist Tod.«
Meist kam Wilhelm zu uns nach Paderborn, doch ich habe ihn auch einmal im Predigerseminar besuchen dürfen. Es war in einem alten Kloster und natürlich durfte ich nur tagsüber in sein Zimmer. Er hatte sich große Mühe gegeben und es extra für mich zurechtgemacht. Alle Spuren der Arbeit beseitigte er, soweit es ging. Einen neuen Lampenschirm hatte er angeschafft und saubere Decken besorgt. Damit wollte er es mir gemütlich machen.
»Verlobt oder verheiratet zu sein ist eine Aufgabe und nicht allein ein gedankenloses Genießen«, fand er.
Im Gegensatz zu mir hatte er sich wieder viele Gedanken um uns gemacht.
»Es ist Geben, Helfen und Dienen, nicht Nehmen, Befehlen und Haben. Da gibt es noch viel zu lernen. Einer passt sich den Besonderheiten des anderen an. Um es einmal modern auszudrücken: Wir erziehen einander. Das sehen und sich gefallen zu lassen, das ist Glück.«
Meist schwieg ich zu solchen Aussagen, sie kamen mir so theoretisch vor. Ich hatte das Gefühl, es gefiel ihm selbst, sich zuzuhören. Doch wenn diese Theorien drohten, mich zu sehr einzuengen, legte ich klar und eindeutig mein Veto ein. Das gefiel ihm längst nicht immer, entsprach es doch nicht seiner romantischen Sicht. Vielleicht könnten wir einander einfach lieben und sich alles entwickeln lassen? Es sollte sich doch gewiss das Meiste fügen, hoffte ich.
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