Ich reiche ihm seinen Kaffee. „Paula!", erst jetzt bemerkt er mich. „Ich bin ja doch nicht allein hier." Er freut sich. „Danke für den Kaffee! Hat Nico dir schon von der Präse erzählt?"
Ich nicke. „Ja, das hat er."
„Sag mal, hast du eine Fahne?"
„Möglich."
Er lacht. „Ich könnte mir auch direkt wieder ein Bier aufmachen. Ich habe bestimmt schon zehn Telefonate geführt, die meisten in Vertretung. Alle Kunden wollen heute was, viele kommen sogar mit neuen Projekten an. Und wir können ohnehin keine einzige Deadline einhalten, denn die Kreation ist leer. Also, du bist die Kreation. Und dieser behämmerte Fit Shake hat Prio eins. Mal im Ernst – wer trinkt denn bitte so einen Scheiß? Wenn ich Proteine will, dann brate ich mir ein Stück Fleisch. Vielleicht ist so was maximal eine Ernährungsergänzung, okay. Aber nur noch Shakes trinken?" Er schüttelt den Kopf und seufzt. „Apropos trinken – haben wir Bier im Kühlschrank? Spätestens um 16 Uhr mach ich mir eins auf."
Ich grinse. „Da bin ich dabei. Gib mir ein Zeichen. Ich werde wahrscheinlich vor 16 Uhr meinen Blick nicht vom Monitor abwenden. Aber den Pegel konstant zu halten scheint mir sinnvoll."
Er nickt. Ich gehe in die Kreation, schalte meinen Rechner ein und bin der Fit Shake. Nur irgendwie besoffen und müde. Und etwas hasserfüllt auch. „Du gehst mit dem USP nicht konform.“ Ganz im Ernst, Nico: Wenn der USP ist, dass man von nun an aufs Essen verzichten kann, dann gehe ich damit auf keinen Fall konform. Ich gehe mit dem ganzen Produkt nicht konform. Ich verstehe Biancas Bildmotive nicht, auf denen ohnehin schon schlanke Menschen hysterisch lachen, während sie ihren Protein-Drink schlürfen. So viel Spaß hat man also mit Fit Shake. So viel Spaß hat man, wenn man das Essen einfach weg lässt. So viel Spaß und auch einfach ... so viel mehr Zeit. Man kann drei Minuten ohne Sauerstoff auskommen, drei Tage ohne Wasser und dreißig Tage ohne Nahrung. Wie wäre es aber, wenn man für immer auf Nahrung verzichten könnte? Nehmen wir an, wir ersetzen jede Mahlzeit kontinuierlich durch einen Shake. Essen dauert im Durchschnitt, wenn man bedacht kaut und so, zwanzig Minuten pro Mahlzeit. Einen Shake zu trinken dauert vielleicht drei. Das heißt, wir sparen drei mal siebzehn Minuten am Tag. Das sind 51 Minuten – runden wir also großzügig auf eine Stunde auf. Das ist also wie ... eine Stunde früher Feierabend. Eine Stunde mehr Zeit für die Familie. Für Hobbys und Interessen. Freiheit! Wir wären alle so frei, wenn wir endlich dieses lästige Essen weglassen würden. Wir hätten auch die komplette Mittagspause für uns und könnten endlich Dinge machen, die wirklich Spaß bringen. Ich überlege kurz, was ich in der Mittagspause lieber machen würde als, nun ja, zu Mittag essen. Mir fällt nichts ein. Ich schaue mir die Menschen an, die beim Fit Shake trinken total Spaß haben. Das sind dieselben Menschen, die man regelmäßig auf Plakaten oder in Zeitschriften über einem Salat lachen sieht. Als hätte der Salat einen total lustigen Witz erzählt. Keine gute Geschichte der Welt beginnt jemals mit einem Salat. Und mit einem Protein-Shake? Was machen diese Leute, wenn sie endlich nicht mehr essen müssen? Ich sehe sie manisch um die Alster joggen. Ins Fitnessstudio gehen, sechzig Minuten Rudermaschine, Beinpresse, Bauchpresse (gibt es das?) oder ... im Yoga-Kurs! Entspannung pur, die Auszeit vom Büroalltag. Man hat auch mehr Zeit für die Karriere: Kundenmeetings sind produktiver, die Ideenfindung ist umfangreicher. Aber natürlich ist der Freizeitausgleich ohne Nahrungsaufnahme der schönere Effekt. Zurück zum Yoga, Pilates, Yogates, ... man könnte auch eine neue Sportart für sich entdecken. Eine weitere Fremdsprache lernen und mit all der gewonnen Zeit eine Reise planen, ein Buch schreiben, ... aber energetische Tätigkeiten sind am besten. Eine Organisation oder ein Sozialprojekt unterstützen. Irgendwas founden, heute ist doch jeder Founder. Oder man wird zum Fashionblogger, jetzt sitzt ja auch alles besser, man hat ja abgenommen durch die Shakes. Man eröffnet einen Youtube-Kanal, dort kann man dann natürlich keine Kochtipps mehr geben, aber es gibt vermutlich auch andere Themen. Ich habe Hunger. Ich beschließe, dass mein Ansatz für die Präsentation ein provokanter Testimonial-Ansatz wird. Menschen, die davon berichten, was sich in ihrem Leben alles zum Positiven gewandelt hat, seit sie mit dem Essen aufgehört haben. So ähnlich wie eine Nichtraucher-Kampagne, nur absurder. Denn darum geht es Fit Shake ja: Niemand auf diesem Planeten muss mehr essen müssen! Wir werden soviel mehr Spaß haben. Soviel mehr Spaß habe ich auch, als ich laut lachend die Lines für die Testimonials verfasse. "Fit Shake hat mein Leben verändert! Seitdem ich nicht mehr essen muss, ..."
So eine gequirlte Scheiße. Ich bin so drin, dass ich manche Motive in der Präse sogar mit selbst eingesprochenen Audiospuren unterlege. Punkt 16 Uhr steht Ferdi neben mir, mit zwei kalten Flaschen Bier in der Hand. Für eine Sekunde kann ich mir tatsächlich vorstellen, am heutigen Tag nur noch zu trinken.
„Seitdem ich nicht mehr esse, habe ich soviel mehr Zeit für Bier. Ich habe zwar nichts abgenommen, dafür aber endlich meine Karriere beendet. Nachdem ich meine Wohnung verlor, fand ich unter einer Brücke neue Freunde mit ähnlichen Interessen. Wir haben sehr viel Zeit füreinander. Es ist wie das Paradies auf Erden, nur etwas kälter."
Ferdi und ich trinken unser Bier vor dem Gebäude, um etwas frische Luft zu schnappen. Ich rauche eine Zigarette und erzähle ihm dabei von meiner Fit Shake Idee. Er muss laut lachen. Dann sagt er: „Findest du es nicht etwas übertrieben?"
Ich nicke. „In der Tat, ja. Es ist fast schon bösartig. Nico wird es vermutlich hassen. Schaffst du es trotzdem, das Ganze ernsthaft zu präsentieren?"
„Klar", er ist überzeugt. Ich glaube ihm aufs Wort. Ferdinand, der Star am Powerpoint-Himmel. Ich kann ihn mir nur zu gut auf Feierlichkeiten der Eltern vorstellen, bei denen er ältlichen Ekeltanten die Hand küssen, trockene Dialoge über Weltgeschehen und Finanzen führen und dabei die ganze Zeit nett und professionell bleiben muss. Er hat dieses Lächeln, das eigentlich kein Lächeln ist. Es ist ein Reflex. Außerdem könnte er mit der richtigen Betonung die Gebrauchsanleitung eines Toasters vortragen und am Ende wäre einfach jeder vom Produkt überzeugt. Selbst wenn der Kunde sich eigentlich ein Waffeleisen gewünscht hätte. Um welche Kundenpräsentation es auch geht, Ferdi ist NordMedias Geheimwaffe. Und das als Volontär mit einem Bruttolohn von 1200 Euro.
Um 21.30 Uhr ist die 30-seitige Präsentation endlich fertig. Ich habe nicht nur eine Printkampagne, sondern auch ein Spotkonzept eingefügt. Außerdem habe ich mir noch ein paar Guerilla-Maßnahmen einfallen lassen, so on top. Kuriose Aktionen wie z.B. den „Shake Day" an dem sich alle Fit Shake-Anhänger an einem öffentlichen Platz (zum Beispiel auf dem Hamburger Rathausmarkt) treffen, wo Power-Plates bereitstehen und 51 Minuten (die Zeit, die man am Tag spart) kollektiv geshakt, also, gewackelt wird. Zuerst dachte ich an Tanzen, aber das war mir dann doch zu altmodisch. Außerdem soll es ein Gewinnspiel geben, bei dem jeder einreichen kann, was er mit einer zusätzlichen Stunde am Tag alles anfangen würde. Die Person mit der originellsten Antwort wird Fit Shake-Testimonial und somit Teil der Kampagne. Ansonsten werden Shakes, Sportkleidung und Fitnessstudio-Abos verlost.
Ich gehe alle Punkte mit Ferdi durch, er findet die Präsentation schlüssig, hält sich aber mit seiner inhaltlichen Meinung zurück. Gegen 23 Uhr schalten wir den Rechner aus. Ferdi fühlt sich gut vorbereitet für den Kundentermin, der schon um 8.30 Uhr stattfinden soll und ich bin unglaublich verwundert darüber, dass noch immer kein schlechtes Gewissen bei mir einsetzt. Nico wird außer sich sein, aber was setzt er auch jemanden an das Fit Shake-Projekt, der mit dem USP nicht konform geht?
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