1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 Tahuna wischte sich die Tränen aus den vor Kummer fast schwarzen Augen und blickte hoch.
Sie musste zu Kamun; sie musste ihm von dem Verrat und dem Mord an ihrem Vater berichten. Vielleicht waren ja noch andere Seher in Gefahr.
Erleichtert darüber, endlich wieder einigermaßen klar denken zu können und eine Entscheidung getroffen zu haben, löste sie sich von dem Baum und drehte sich um.
Das Letzte was sie sah, war das kalte Funkeln von Metall im Sonnenlicht, bevor es sich mit tödlicher Präzision in ihr Herz bohrte und alle Überlegungen für immer auslöschte.
*
Lanea fühlte sich trotz der vor ihr liegenden Ungewissheit glücklich, während sie ihre Schritte durch das Dorf auf den Strand lenkte. Sie freute sich über alle Maßen für Tahuna; ihre Freundin hatte gestrahlt und sie einfach in ihr Glücksgefühl mit hineingerissen. Es war nur sehr bedauerlich, dass sie bei den Feierlichkeiten nicht mehr dabei sein würde. Ihr Vater hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. Die Tsunami würde bereits beim nächsten Sonnenaufgang in See stechen, und sie musste noch heute ihr Quartier an Bord beziehen.
Die Verabschiedung von ihren Eltern war erschreckend schnell gegangen, doch sie war auch dankbar dafür. Lanea hasste rührselige Momente und ging ihnen gerne aus dem Weg. Trotzdem hatte sie verwundert bemerkt, wie ihre Eltern ungeduldig auf ihren schnellen Aufbruch bestanden hatten. Das aufdringliche Gefühl, abgeschoben zu werden, hatte sich ihrer bemächtigt und nicht mehr losgelassen. Die Anweisungen ihres Vaters waren kurz und knapp gewesen und hatten mehr Fragen aufgeworfen als sie zu beantworten.
Vor der Hütte, in der Tahuna und ihr Vater wohnten, hielt Lanea kurz an. Sollte sie hineingehen und Tahuna noch einmal Lebewohl sagen? Aber alles schien ruhig und vermittelte den Eindruck, als wäre niemand da. Eigentlich hatten sie sich ja bereits verabschiedet und eine weitere Begegnung würde ihnen beiden nur unnötig das Herz schwer machen. Sie seufzte, griff ihren Sack, in den sie ihre wenigen Habseligkeiten gestopft hatte, fester und ging weiter.
Die Tsunami lag ruhig in der kleinen Bucht vor Anker und schien nur auf sie zu warten. Zwei Seeleute standen neben einem Beiboot, das ein Stück auf den Strand gezogen worden war, und warteten tatsächlich auf sie.
Als die Männer Lanea entdeckten, griffen sie nach dem Boot und zogen es zurück in das Wasser, das mit sanften Wellen den zaghaften, aber konstanten Versuch wagte, das Boot am Ufer festzuhalten.
„Auf geht’s Lanea“, murmelte sie vor sich hin und versuchte, ihren sinkenden Mut zu ignorieren, als sie auf die Männer zuging.
*
Am nächsten Morgen betrat Stephen Stout mit lässigem Schritt die Höhle des Obersten Sehers, der ihm bereits mit hochgezogenen Augenbrauen entgegensah und den Mund in einer merkwürdig ungeduldigen Geste verzog.
Stout verneigte sich ehrfürchtig, als er in angemessener Distanz vor dem alten Mann stehenblieb.
„Seid gegrüßt, Oberster Seher!“
Bairani neigte wohlwollend den Kopf und deutete mit seinen langen Fingern auf ein paar Stühle, die an einer Seite der Höhle in einer mit kunstvoll gefertigten Decken verzierten Nische standen. Weißes Sonnenlicht, das durch eine von Menschenhand geschaffene Öffnung fiel, warf seinen großzügigen Schein auf die bunten Muster, die verschiedene Szenen aus den Legenden um die Göttin Thethepel darstellten, und erfüllten sie mit unwirklichem Leben. Eine Decke, die größer als die anderen war, wurde von nur einem einzigen überdimensionalem Bild geziert, auf dem die Göttin selbst mit hoch erhobenen Armen auf dem Meer stand, ihre roten Haare züngelten dabei wie Flammen um ihren Kopf, und vor ihr erhob sich ein feuerspeiender Vulkan aus den sie umgebenden Fluten. Die Erschaffung Waidamis! Stout hätte sich gerne die anderen Szenen angesehen, gehorchte jedoch dem Wink Bairanis und setzte sich. Der Oberste Seher setzte sich würdevoll in den Stuhl gegenüber. Mit einer betont sorgsamen Geste legte er seine dürren Hände, die vom Alter gezeichnet waren, auf die Lehnen und lächelte Stout mit einem aufmunternden Lächeln an, das den Piraten gezielt darauf hinwies, wie dünn sein Lebensfaden war, wenn er jemals etwas Falsches antworten würde.
„Sprich, mein Sohn! Konntest du meinen Auftrag erfüllen?“
Stephen nickte langsam.
„Ja, Oberster Seher. Ich habe Ronam und seine Tochter ohne Probleme beseitigt. – Vielleicht interessiert es Euch, dass Tamaka und Nahila diese Nacht Waidami verlassen haben. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob nicht einer von ihnen mich vielleicht im Dorf gesehen hat.“ Stout knurrte die letzten Worte voller Groll, hasste er doch den Gedanken, dass ihm möglicherweise ein Fehler unterlaufen sein konnte.
Bairanis mitleidlose Augen musterten den Piraten eine endlos lange erscheinende Zeit, ohne eine Spur von einer menschlichen Regung zu zeigen. Kalter Schweiß lief Stouts Rücken hinab und hinterließ dabei ein Gefühl des Unbehagens. Wieder einmal fragte er sich, was der Mann alles sah, und ob er auch dazu in der Lage war - oder einer seiner Seher - zu erkennen, was er dachte. Stout zwang sich, ungerührt zu erscheinen. Glücklicherweise konnte er von Sehern keine Strömungen empfangen. Er wollte nicht wirklich spüren, was in diesem Mann vorging. Wenn er, Stout, auch nicht gerade zart besaitet war und sicher genug schändliche Tat begangen hatte, jagte ihm der Oberste Seher doch eine unbekannte Angst ein. Er war gnadenlos, kompromisslos und würde seine eigene Tochter foltern, wenn ihm das zum Vorteil gereichen würde. Seine Strömungen mussten sämtliches Vorstellungsvermögen sprengen, wie eine bis unter den Mast mit Schießpulver beladene Galeone.
Die sonst eher tot scheinenden Augen Bairanis waren von unheilvollem Leben erfüllt und glänzten tückisch in seinem faltigen Gesicht, als sich sein schmaler Mund zu einem boshaften Lächeln verzog.
„Nun, Stephen, ich denke, ich muss dir etwas erklären, und dann habe ich da noch einen Auftrag für dich, der dich inspirieren dürfte.“
Er legte eine Pause ein, in der er Stout erneut taxierte, dann berichtete er von der letzten Sichtungszeremonie. Er berichtete, dass endlich der Piratenkapitän identifiziert worden war, der entweder zum Verräter oder zum tödlichen Instrument gegen die Spanier werden würde, und ignorierte dabei die sichtliche Erregung, die Stout ergriff, als er den Namen Jess Morgans vernahm. Er erzählte, warum er Lanea an Bord der Monsoon Treasure gesandt hatte, und dass Ronam hatte verschwinden müssen, weil er inzwischen zu kritisch geworden war. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, erhob sich Bairani langsam aus dem Stuhl. Er verschränkte die Hände wie zu einem Gebet ineinander und ging nachdenklich durch den Raum. Vor der Fensteröffnung blieb er stehen und blickte versonnen in den Dschungel, der an dieser Seite den Vulkankrater herauf kroch wie eine grüne Schlange, und tat so, als lausche er hingebungsvoll den unschuldigen Geräuschen, die von dort zu ihm herauf drangen. Dann wandte er sich scheinbar selbstvergessen wieder an Stout, der ihn starr beobachtete und seine Finger wie eiserne Krallen um die Lehnen seines Stuhles geklammert hatte.
„Nahila ist unwichtig und um Tamaka kümmerst du dich bei Gelegenheit. Er weiß wesentlich mehr, als er immer zugegeben hat, und er scheint seine eigenen Pläne zu haben. Da nicht klar ist, welche Rolle Lanea in dieser Vision spielt, kann ich ihr nicht vertrauen. Es ist also vorrangig, dass du die Suche nach der Monsoon Treasure aufnimmst.“
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