1 ...7 8 9 11 12 13 ...25 „Macht, dass ihr fortkommt“, hatte er gesagt. Dann hatte er den Weg zurückgeblickt und sie beide mit schnellem Griff aus dem Gebüsch gezogen. Er hatte sie von oben bis unten angesehen und war plötzlich ernst geworden. „Die anderen lassen zwei Mädchen wie euch nicht einfach wieder gehen. Seht also zu, dass ihr ihnen aus dem Weg geht.“ Sie hatten beide dagestanden, ihn angestarrt, unfähig zu sprechen und waren langsam wieder rückwärts im Gebüsch verschwunden. Ihre Blicke hatten sie kaum von ihm wenden können, denn er blieb dort stehen, bis sie den Berg ins Dorf hinunterliefen. Tahuna seufzte, er war damals so gefährlich und doch so … anziehend erschienen. Hoffentlich würde ihre Freundin ihr eines Tages von ihm erzählen.
Sie berührte Lanea sacht am Arm.
„Lanea, ich werde nach meinem Vater sehen. Ich glaube, es geht ihm nicht gut. Er erschien mir die letzten Tage schon nicht wohlauf.“
„Soll ich dich begleiten?“ Lanea sah ihre Freundin besorgt an.
„Nein, genieße deine letzten Augenblicke hier, bevor du leibhaftigen Piraten gegenüberstehst.“ Tahuna kicherte und schloss ihre Freundin fest und voller Zuneigung in die Arme. „Ich wünsche dir alles Gute, und dass du so ein Glück findest, wie ich es auch gefunden habe.“
„Ja, das wünsche ich mir auch – und dir wünsche ich ein ganzes Dorf voller Kinder mit Kamun.“ Diesmal war es Lanea, die kicherte, und ihre Freundin ebenfalls von ganzem Herzen drückte.
Tahuna grinste, und beide Frauen ließen ihre Arme sinken, als wüssten sie nicht, wie sie sonst ein Ende finden sollten. Dann drehte sich Tahuna um und eilte davon.
*
Tamaka sah der jungen Frau nach, die mit eiligen Schritten nach Hause ging. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, und er presste fest die Lippen aufeinander. Dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu, die einen glücklichen, wenn auch wehmütigen Ausdruck im Gesicht hatte. Sie blickte der Freundin hinterher und richtete dann ihre grünen Augen auf ihn.
„Sie ist so glücklich. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben und …“
Tamaka schüttelte entschieden den Kopf.
„Nein, dein Schiff wird morgen früh bereits Waidami verlassen!“, antwortete er eine Spur zu scharf, wie er selbst missbilligend bemerkte. Lanea sah ihn auch verwundert über den ungewohnten Ton an, sagte aber nichts.
„Wenn du nicht rechtzeitig an deinem Ziel ankommst, könnte es sein, dass du Jess Morgan verpasst.“ Tamaka sprach nun sanfter und griff nach ihrer Hand. „Es ist wichtig – sehr wichtig, dass du auf die Monsoon Treasure gehst. Aber das bereden wir zu Hause, nicht hier.“ Er sah sich um, und sein Blick blieb noch einmal auf der alten Merka hängen. Ihre Augen, in denen so viel beunruhigendes Wissen lag, trafen die seinen. Unwillkürlich beschleunigte sich sein Herzschlag für einen Moment, als hätte sie ihn bei etwas Unrechtem ertappt.
„Verabschiede dich von den Leuten, Lanea. Danach gehen wir nach Hause, und ich erkläre dir deinen Auftrag, während du deine Sachen packst. Du wirst noch heute Abend an Bord der Tsunami gehen. Captain Makani wird dich bereits erwarten.“
„Wieso die Eile, Vater?“ Lanea hatte das Gesicht unwillig verzogen.
Tamaka kannte sie gut genug und wusste, dass sie voller Unsicherheit war. Sie wollte nie wirklich eine Schiffshalterin werden. Aber bei den Waidami wurden jedem von Geburt an eine Aufgabe zugeteilt. Die Seher befanden gemeinsam darüber, wofür ein Kind wohl zukünftig in der Gemeinschaft am geeignetsten erschien. Bei Lanea hatte es nie einen Zweifel gegeben, und so war sie in diese Rolle gedrängt worden, die sie jedoch immer am liebsten abgelehnt hätte. Die Schiffshalter begleiteten die Piratenschiffe, hauptsächlich um den Kontakt zu den Waidami zu halten. Sie gaben laufend die Positionen durch, an denen sich das Schiff gerade befand, oder wo Beuteschiffe versenkt wurden, die dann so später zu den Schiffsbauern geschleppt werden konnten.
Da er und seine Frau stets nur voller Verachtung über die Piraten sprachen, hatte sie bereits als kleines Mädchen begonnen, die Piraten zu fürchten. Und nun schickte er sie selbst auf ein solches Piratenschiff! Er konnte sie so gut verstehen, und Tamaka hasste sich selbst dafür. Er hasste sich für seinen Auftrag, mit dem er Lanea Dingen aussetzte, von denen er selbst nur eine vage Vorstellung hatte.
„Es muss sein, vertrau mir einfach.“
Lanea nickte und lächelte ihn dann zaghaft an.
„Ich vertraue dir, Vater.“ Sie drückte seine Hand, bevor sie sich umdrehte und begann, sich von jedem Einzelnen zu verabschieden.
Tamakas Herz wurde schwer, während er dabei zusah. Die meisten nahmen Lanea in die Arme und drückten sie herzlich. Mancher junge Mann sah sie enttäuscht an. Als Lanea sich schließlich der alten Frau zuwandte, stockte Tamaka für einen Moment der Atem. Die Alte wickelte sich eine Strähne, die aus der Gefangenschaft des Zopfes geflüchtet war, um ihre knochigen Finger.
„Folge nur deinem Weg, Kind – dann wirst du dich selbst finden.“ Ihre Stimme klang heiser, dann löste sie die Strähne von ihren Fingern und streichelte Lanea sanft über die Wange, die ihr spontan einen Kuss gab. Mit einem Lächeln, das nur jemand kennt, der so viel Zuneigung erfährt, drehte sich Lanea zu Tamaka um.
„Lass uns gehen, Vater.“
Lanea ging vor ihrem Vater her und bemerkte nicht die unsicheren Blicke, die er auf die Hütte von Tahuna und ihrem Vater Ronam warf, als sie daran vorbeikamen.
*
Tahuna ging schweren Herzens. Sie würde Lanea vermissen, aber sie freute sich auch auf die vor ihr liegende Zeit mit Kamun.
Als sie vor der Hütte ihres Vaters anlangte, bemerkte sie verwundert, dass die einfache Holztür offenstand. Tahuna beschleunigte ihre Schritte, aus irgendeinem Grund hatte ihr Vater die Tür nicht schließen können. Sorge fraß sich wie ein ungebetener Gast in ihr Herz, und sie schritt mit bangem Gefühl in das Innere.
„Vater? Ist alles in Ordnung?“ Ihre Worte tropften überlaut in die Stille. Besorgt ließ Tahuna ihren Blick durch den Hauptraum schweifen. Keine Spur von ihrem Vater! Sie wollte gerade den Vorhang zu dem Schlafraum ihres Vaters beiseiteschieben, als ihre Augen sich plötzlich weiteten und sie die Hand entdeckte, die unter dem schweren Stoff hervorragte. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu und ließ ihre Zunge zu einem unförmigen Klumpen anschwellen. Sie wollte schreien, irgendetwas sagen, doch kein einziger Laut kam über ihre Lippen.
Im selben Augenblick wurde der Vorhang langsam zur Seite geschoben. Ihr Blick ruhte fassungslos auf ihrem Vater, der leblos auf dem Boden lag. Erst dann wanderten ihre Augen in entsetzlicher Langsamkeit auf die riesige und klobige Gestalt, die sich in den Rahmen schob. Stephen Stout! Tahuna keuchte auf. Seine kalten Augen betrachteten sie desinteressiert, und mit einem unangenehmen Lächeln seines breiten Mundes präsentierte er ihr ein blutbeflecktes Schwert.
Immer noch stumm vor Entsetzen, drehte sich Tahuna auf der Stelle um und rannte kopflos aus der Hütte und in den direkt dahinter liegenden Dschungel. Sie lief blind und voller Panik. Ihr Herz raste und klopfte mit schmerzhaften Schlägen in ihrer Brust und in ihrem Kopf. Sie war nicht mehr in der Lage, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen und schlug wie blind mit ihren vorgestreckten Armen die Zweige und Blätter aus ihrem Weg. Der Pirat musste dicht hinter ihr sein. Sie spürte es mit erschreckender Gewissheit, auch wenn sie keinen Laut um sich herum wahrnehmen konnte, außer ihren eigenen keuchenden Atem und das Blut, das durch ihre Adern rauschte. Ihre schwarzen Haare flatterten wie eine vom Sturm zerrissene Fahne hinter ihr her und verdeckten für einen Wimpernschlag den Weg, als sie zurückblickte. Jeder Atemzug wälzte sich brennend durch ihre Lungen, und die Luft wurde knapp. Sie konnte nicht weiter, konnte nicht ewig so panisch davonrennen. Es schien doch niemand hinter ihr zu sein, und Tahuna stoppte ihren Lauf. Schweratmend stützte sie ihre Hände an einen bemoosten Baumstamm ab, der sich feucht und weich in ihre Handflächen schmiegte. Sie hielt den Kopf gesenkt und versuchte verzweifelt, die übermächtige Angst aus ihrem Verstand zu bannen. Es konnte unmöglich wahr sein, was gerade geschehen war. Ein einziger Augenblick hatte ihr ganzes Glück zerstört. Eben hatte sie noch mit Lanea zusammengesessen und darüber gelacht, dass sie bald den begehrtesten jungen Krieger des Dorfes heiraten würde und dann, einen Augenblick später, fand sie ihren Vater ermordet. Ermordet von einem Handlanger Bairanis. Die kalte Erkenntnis, dass dies auch der Grund für das Unwohlsein ihres Vaters gewesen sein musste, griff nach ihrem Herzen und bohrte sich wie ein Messer hinein. Ihr Vater hatte es gewusst …
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