Deshalb war er mit Bus und Straßenbahn in Richtung Universität gefahren und hatte dann nur noch einen überschaubaren Fußweg zur Staatsbibliothek gehabt.
Er stand vor dem beeindruckenden Ziegelgebäude, das die Staatsbibliothek beherbergte und rauchte die fürs erste (so für zwei Stunden dachte er sich) letzte Zigarette.
An der Treppe vor dem Haupteingang grüßten ihn vier große Steinfiguren, die von einigen gebildeten Münchnern als "Die vier Heiligen Dreikönige" bezeichnet wurden: Thukydides, Homer, Aristoteles und Hippokrates. In ihrer Gesamtheit verweisen die vier auf die Vielfalt der Wissenschaften, deren Literatur die Königliche Hof- und Staatsbibliothek zu sammeln bestimmt war.
Er stand nicht alleine vor der Treppe, außer ihm standen viele junge Leute, kaum welche rauchten (bis auf ein paar junge Frauen), einige tranken das Getränk, das angeblich Flüüügel verleihen sollte und die meisten quatschten einfach nur. Fast jeder hielt einen Laptop unter dem Arm.
Der Graf nahm einen letzten langen Zug, schaute dem Rauch aus seinem Mund einen Moment hinterher und trat dann die Zigarette mit dem Fuß aus und nahm schließlich dann die Außentreppe in Angriff.
Er trat durch eine kleine Tür in den Vorraum der beeindruckenden Innentreppe, die zum Lesesaal hinauf führte. Diese Treppe hatte König Ludwig I. (der Großvater von Ludwig II. oder „mad Ludwig“) einst nur zur Nutzung einzig durch sich selbst vorgesehen – ein ziemliches Privileg, fand der Graf und ging die Treppe entsprechend würdevoll und langsam hinauf, um den königlichen Aufstieg zu genießen.
Ein paar junge Leute liefen mit ihren iPad oder Laptop unter dem Arm schnell an ihm vorbei – das war offenbar ein Privileg der Jugend, in Räumen wie diesen nicht staunen zu müssen
Der Graf wunderte sich ein bisschen über die vielen jungen Leute, denn als er die Staatsbibliothek das letzte Mal benutzt hatte, das muss so 1985 oder 86 gewesen sein, da hatte die Staatsbibliothek zwar bestimmungsgemäß jedem Bayerischen Bürger offen gestanden, aber dezidiert NICHT den Studenten! Die Zeiten ändern sich.
Im Eingangsbereich zum Lesesaal war ein Sicherheits- und Kontrollposten eingerichtet worden, die Besucher mussten sich einzeln durch ein Drehkreuz zwängen – Fotoapparate waren nicht erlaubt, Handys mit ihren eingebauten Kameras dagegen schon.
Als der Graf den Zerberus am Eingangsdrehtor neugierig fragte, warum denn Kameras verboten seien, die Handys aber nicht, zuckte der gelangweilt die Schultern und sagte ihm, dass das Vorschrift sei, und er sich um die Gründe nicht scheren würde, wo käme er denn dahin, wenn er die Regeln auch noch hinterfragen würde. Und dahinten sei die Direktion, dort könne er ja nachfragen, wenn es ihn tatsächlich so brennend interessiere...
Nein, das tat es nicht, und der Graf passierte Zerberus, der ihm noch einen skeptischen Blick nachsandte.
Neben ihm hatte ein handgeschriebenes Schild über den Fakt informiert, dass alle Plätze im Lesesaal besetzt seien. Und auch da verkniff sich der Graf die Frage, warum dann noch Leute eingelassen würden... Naja, lesen konnte man schließlich auch im Stehen.
Als er den Lesesaal betrat, staunte er nicht schlecht – sicherlich waren alle Arbeitsplätze belegt – und das waren wahrlich nicht wenige, gefühlt bestimmt achthundert. Allerdings darf man sich nun nicht vorstellen, dass an jedem Platz ein fleißiger Student saß, nein, mehr so wie im „all-inclusive“-Urlaubshotel, wo die Gäste noch vor dem Frühstück Handtücher auslegten, um ihren Platz zu beanspruchen, lagen hier auf jedem zweiten Platz Block und Kugelschreiber – offenbar die Handtücher der jüngsten Akademikergeneration.
Vermutlich waren die angeblich fleißig Arbeitenden in der Cafeteria oder in den benachbarten Cafés, dachte sich der Graf, schließlich gehört zum Leben ja nicht nur das Studium der diversen Wissenschaften, sondern auch das des anderen Geschlechts.
Er schaute sich um und fand ein Schild oder Plakat, auf dem in Stichworten vermerkt stand, wo in den unendlichen Regalreihen, seine Interessengebiete versteckt waren. Er suchte seine Stichworte: Rechtsmedizin oder Kriminologie – und fand sie nicht.
Also steuerte er einen der vier oder fünf Beratungsplätze an. Am ersten saß ein auszubildender Bibliothekar (oder wie der sich nennen mochte), der wusste schon mal gar nichts und verwies stumm nur mit Handzeichen mit seinem gefährlich spitzen Bleistift an seinen Kollegen auf dem Nachbarplatz, der einer Studentin intensiv und konzentriert das Suchsystem im Bibliotheks-PC erläuterte. Das schien zu dauern.
Der Graf verstand, das Mädel war eindeutig jünger und vor allem hübscher als er. Also schaute er sich um und fand auf der anderen Seite des Ganges eine weitere Beraterin. Sie sah schon aus der Ferne streng aus. Er erläuterte ihr seine Wünsche. Sie schaute ihn zweifelnd an, nahm sich eine verkleinerte Version des Plakats, das er schon vergeblich durchsucht hatte und meinte dann achselzuckend, dass sie fände, dass da nichts sei – Medizin stände „oben“ und Rechtswissenschaften auch. Der Graf dachte sich, dass das ein toller Service sei, aber da die Benutzung des Lesesaales kostenlos war, war eine bessere Dienstleistung irgendwie auch nicht zu erwarten, fand er. Er ging also die Freitreppe hinauf.
„Leise und langsam gehen“ bedeutete ihm ein weiteres Schild an der Treppe, die Anweisung wurde zumindest dahingehend erläutert, dass sich sonst Lesesaalbenutzer über den ungebührlichen Lärm, den schnelles Gehen verursachen würde, beschweren würden.
„Ganz schön empfindlich, die iPad-Generation“, dachte sich der Graf. Jedenfalls ging er leise und auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, die trotzdem ziemlich in Schwingungen geriet und trotz seiner Vorsicht einiges Getöse von sich gab. Seine Beraterin am Fuß der Treppe schaute ihn böse an, und er zog die Schultern hoch und machte ihr sein unschuldigstes Gesicht. Leiser ging einfach nicht. Nicht auf dieser Treppe.
Oben angekommen suchte er zunächst „Medizin“. Seine Beraterin hatte ihm die Auskunft gegeben, dass er die unter „400“ finden würde, was immer das sein mochte. Er fand sie unter „900“, suchte den Fehler aber bei sich. Zwei lange Regalreihen begrenzten einen schmalen Gang, nichts für Leute mit Klaustrophobie. Die Hälfte der Regale war leer – aber nicht, weil die Bücher entnommen waren, sondern weil offenbar tatsächlich jemand „auf Zuwachs“ gebaut hatte!
Endlich, fast ganz am Ende, über Kopfhöhe fand er das Stichwort „Rechtsmedizin“, unter dem sich sechs einsame Bücher fanden. „Hhm“, dachte der Graf, „das scheint es zu sein...“.
Er nahm sich ein großes Lehrbuch und ein kleines Buch „Rechtsmedizin für die Kriminalpolizei“ aus dem Regal, schmökerte noch im Gang ein wenig darin herum und fand beide interessant genug, um sie unter den Arm zu nehmen und sich einen freien Arbeitsplatz zu suchen.
Von den ersten drei, auf denen weder Block noch Stift lagen, wurde er von den Platznachbarn mit dem Hinweis verjagt, dass da gleich jemand käme. Der Graf bezweifelte das zwar, wollte dem akademischen Nachwuchs aber auch kein Hindernis in der wissenschaftlichen Arbeit sein. Im Vorbeigehen sah er doch einige Jungakademiker, die sich mit ihren Laptops gerade von der anstrengenden Literaturarbeit entspannten – er sah Spielfilme und Schweinchen Dick-Comics laufen, andere spielten Patiencen oder Videospiele, das ganze Spektrum moderner Elektronik-basierter Entspannungsmedien eben.
Nun gut, sei es drum, er suchte weiter und fand endlich einen Bereich, in dem viele Plätze unbesetzt waren. Doch verdammt, ein Schild belehrte ihn, dass dieser Bereich für wissenschaftliche Mitarbeiter mit Codekarte reserviert war. Entsprechend war da eine verschlossene Tür, für die man offenbar die genannte Codekarte brauchte. Also auch nichts...
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