»Wie gewöhnlich.«
»Was können Sie uns von seinem Aussehen und Benehmen während jener Zeit erzählen, war es in irgend einer Weise auffallend?«
Des Sekretärs Stirn runzelte sich. »Da er wahrscheinlich keine Vorahnung seines Todes hatte, wie hätte da in seinem Benehmen eine Aenderung eintreten können?«
Der Coroner ergriff die Gelegenheit, sich für das Betragen des Zeugen von vorhin schadlos zu halten, und sagte in strengem Ton: »Es ist Sache des Zeugen, Fragen zu beantworten, aber nicht solche zu stellen.«
Der Sekretär errötete vor Aerger, und die Rechnung war ausgeglichen.
»Sehr wohl. Also, wenn Herr Leavenworth irgendwelche Todesahnungen fühlte, so hat er sie mir nicht offenbart, im Gegenteil schien er mehr als sonst in seine Arbeit vertieft zu sein. Eines seiner letzten Worte, die er zu mir sprach, war: »Bevor ein Monat vergangen ist, werden wir das Buch in der Presse haben, nicht wahr, James?« Ich erinnerte mich gerade dieser Einzelheit, weil er dabei sein Weinglas füllte; er trank regelmäßig ein Glas Wein, ehe er sich in sein Schlafgemach zurückzog. Ich hatte soeben die Hand auf der Thürklinke und antwortete auf seine Bemerkung: »Ich hoffe es auch, Herr Leavenworth.« »Dann lassen Sie uns darauf anstoßen,« sagte er und schenkte mir ein. Ich trank mein Glas auf einen Zug ans, wogegen Herr Leavenworth das seinige nur halb leerte. Es war noch halb voll, als wir ihn heute morgen tot fanden.«
Die Schilderung dieses letzten Auftritts mußte James doch in hohem Grade erregt haben, denn er zog sein Taschentuch hervor und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. »Das ist das letzte, was ich den Verstorbenen thun sah; denn als er das Glas niedersetzte, wünschte ich ihm ›Gute Nacht‹ und verließ das Zimmer.«
Der Coroner blieb der Erregtheit des jungen Mannes gegenüber durchaus gleichgültig; er lehnte sich auf seinen Sitz zurück und maß den Zeugen mit prüfendem Blick. »Und wohin verfügten Sie sich dann?« fragte er.
»Auf mein Zimmer.«
»Sind Sie unterwegs niemandem begegnet?«
»Keinem Menschen.«
»Hörten oder sahen Sie nicht etwas Ungewöhnliches?«
Des Sekretärs Stimme sank ein wenig, als er antwortete: »Nein, mein Herr.«
»Besinnen Sie sich noch einmal, Herr Harwell; können Sie es mit gutem Gewissen beschwören, daß Sie weder jemand trafen, noch etwas Auffälliges hörten oder sahen?«
Das Gesicht des Zeugen wurde ängstlich, zweimal öffnete er die Lippen, um zu sprechen, und ebenso oft schloß er sie wieder, um zu schweigen. Endlich entgegnete er mit Anstrengung: »Allerdings bemerkte ich etwas, das zu unbedeutend schien, um erwähnt zu werden; aber außergewöhnlich war es, und ich mußte unwillkürlich daran denken, als Sie mich zum Nachsinnen aufforderten.«
»Was war es?«
»Eine Thür stand halb offen.«
»Wessen Thür?«
»Fräulein Eleonore Leavenworths.« Die Stimme des Sekretärs war bei dieser Antwort fast nur ein Flüstern.
»Wo befanden Sie sich, als Sie das gewahrten?«
»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen; wahrscheinlich an meiner eigenen Thür, da ich mich nicht entsinne, unterwegs stehen geblieben zu sein. Wäre das gräßliche Ereignis nicht eingetreten, so würde ich an einen so geringfügigen Umstand überhaupt nicht wieder gedacht haben.«
»Schlossen Sie beim Betreten Ihres Zimmers die Thür ab?«
»Gewiß, mein Herr.«
»Wann gingen Sie zu Bett?«
»Sofort.«
»Hörten Sie gar nichts, bevor Sie einschliefen?«
Wieder jenes unerklärliche Zögern. »Wirklich gar nichts,« sagte er endlich.
»Vernahmen Sie keinen Fußtritt auf dem Korridor?«
»Das könnte wohl sein.«
»Sie haben also einen Fußtritt vernommen?«
»Ich vermöchte es nicht zu beschwören.«
»Glaubten Sie es wenigstens?«
»Es ist möglich; gerade als ich im Einschlafen begriffen war, erinnere ich mich dunkel, etwas wie das Rauschen eines Gewandes und Fußtritte vernommen zu haben; doch es machte keinen besonderen Eindruck auf mich, und bald war ich eingeschlafen.«
»Weiter nichts?«
»Etwas später erwachte ich plötzlich, als hätte mich etwas erschreckt; was es aber gewesen ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nur noch, daß ich mich im Bett aufrichtete und mich rings umschaute. Da ich jedoch weder etwas hörte, noch sah, versank ich bald wieder in Schlaf und erwachte erst heute morgen wieder.«
Nachdem Harwell die Aussagen des Hausmeisters in allen Einzelheiten bestätigt hatte, fragte ihn der Coroner, ob er den Tisch im Bibliothekzimmer bei seinem Weggange in Augenschein genommen habe.
»Ein wenig wohl,« lautete die Antwort.
»Was befand sich darauf?«
»Die gewöhnlichen Gegenstände: Bücher, Papier, eine Feder mit eingetrockneter Tinte, die Flasche und das Weinglas, aus welchem der Ermordete vorher getrunken hatte.«
»Sonst nichts?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Bezüglich des Glases,« fiel hier einer der Geschworenen ein, »sagten Sie ja wohl, daß es in demselben Zustande aufgefunden worden sei, in welchem es war, als Sie Herrn Leavenworth verließen?«
»Jawohl.«
»Und doch pflegte er sonst das Glas ganz auszutrinken?«
»Gewiß.«
»Es muß also gleich nach Ihrem Weggange eine Unterbrechung stattgefunden haben?«
Eine fahle Blässe überzog plötzlich das Gesicht des jungen Mannes; er zuckte zusammen und sah einen Moment lang aus, als habe ihn ein schrecklicher Gedanke ergriffen. »Das folgt gerade nicht daraus,« brachte er endlich mühsam hervor. »Herr Leavenworth mag –« hier brach er ab, als sei es ihm unmöglich, weiter zu sprechen.
»Fahren Sie fort, Herr Harwell, und lassen Sie hören, was Sie noch zu sagen haben,« bemerkte der Coroner.
»Ich habe Ihnen nichts mehr hierüber mitzuteilen,« bemerkte der Sekretär, als kämpfe er mit einer heftigen Erregung.
Mehrere der Anwesenden warfen sich bei dieser Antwort argwöhnische und bedeutsame Blicke zu, als glaubten sie, in der Aufregung des jungen Mannes einen Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses gefunden zu haben.
Der Coroner nahm indessen keine weitere Notiz davon und fuhr in seinem Verhör fort: »Wissen Sie, ob der Schlüssel zum Bibliothekzimmer, als Sie dasselbe gestern abend verließen, im Schlosse steckte oder nicht?«
»Ich habe nicht darauf geachtet.«
»Sie sind aber der Ansicht, daß er darin war?«
»Ich muß es allerdings annehmen.«
»In jedem Falle war aber die Thür heute morgen verschlossen und der Schlüssel verschwunden?«
»Jawohl, mein Herr.«
»So muß also derjenige, der den Mord begangen hat, beim Verlassen des Zimmers die Thür verschlossen und den Schlüssel mitgenommen haben.«
»Es hat den Anschein.«
Der Coroner schaute die Geschworenen mit ernsten Blicken an. »Meine Herren,« sagte er, »das Verschwinden des Schlüssels ist ein Geheimnis, das notwendigerweise aufgeklärt werden muß.«
»Erlauben Sie mir eine Frage,« ließ sich jetzt der kleine Geschworene wieder vernehmen, »man erzählt uns, daß beim Aufbrechen des Bibliothekzimmers die beiden Nichten des Herrn Leavenworth Ihnen in das Gemach folgten; war dem so, Herr Harwell?«
»Nur eine begleitete uns: Fräulein Eleonore.«
»Ist diese die voraussichtliche Universalerbin des Ermordeten?« forschte der Coroner.
»Nein, das ist Fräulein Mary.«
»Auch ich möchte Herrn Harwell eine Frage vorlegen,« ließ sich jetzt ein Geschworener vernehmen, der bisher noch nicht gesprochen hatte. »Man hat uns eine ausführliche Schilderung von der Auffindung der Leiche gegeben; nun wird aber doch niemals ein Mord ohne bestimmte Absicht verübt. Weiß der Sekretär vielleicht, ob Herr Leavenworth einen geheimen Feind gehabt hat?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Stand jedermann im Hause mit ihm auf gutem Fuße?«
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