Der Sicherheitsbeamte nahm das Billet in Empfang, sah mit einem verständnisvollen Aufblitzen des Auges die Adresse an, setzte sich den Hut auf und verließ den Saal. In der nächsten Minute verkündete ein lautschallendes ›Hurra‹ der Straßenjugend, daß er vor die Hausthür getreten war.
Von meinem Sitze aus hatte ich die volle Aussicht durch das Eckfenster. Ich bemerkte, daß der Polizist einen Fiaker anrief, schnell hineinsprang und in der Richtung nach dem Broadway hinwegfuhr.
Drittes Kapitel.
Das Verhör.
Als ich meine Aufmerksamkeit dem Verhör wieder zuwandte, sah ich, wie der Coroner durch sein goldenes Augenglas in ein Notizbuch blickte. »Ist der Hausmeister da?« fragte er.
Sofort regte es sich unter der in der Ecke gruppierten Dienerschaft. Ein mit einem gewissen Selbstbewußtsein auftretender Irländer drängte sich aus der Mitte hervor und stellte sich den Geschworenen gegenüber.
»Oh,« dachte ich bei mir, als ich die sorgfältig gepflegten Bartkoteletten, das sichere Auge und die achtungsvolle, aber keineswegs demütige Haltung des Mannes einer Prüfung unterwarf, »das ist ein Musterdiener und wahrscheinlich auch ein Musterzeuge!« Und darin sollte ich mich nicht getäuscht haben.
Der Coroner, auf welchen er wie auf alle anderen im Saale einen günstigen Eindruck gemacht zu haben schien, schickte sich ohne Zögern an, ihn zu verhören. »Sie heißen Thomas Dougherty?«
»Das ist mein Name, Herr.«
»Wie lange haben Sie schon die gegenwärtige Stelle inne, Thomas?«
»Es werden wohl so etwa zwei Jahre sein.«
»Sie waren der erste, welcher Herrn Leavenworths Leiche entdeckte.«
»Ja, Herr; ich und Herr Harwell.«
»Wer ist Herr Harwell?«
»Der Privat-Sekretär, der die Schreibereien für Herrn Leavenworth besorgte.«
»Zu welcher Tages- oder Nachtzeit machten Sie jene Entdeckung?«
»Gegen acht Uhr des Morgens.«
»Und wo?«
»Im Bibliothekzimmer, das mit dem Schlafgemach in Verbindung steht. Wir waren ängstlich, da der Herr gegen seine Gewohnheit nicht beim Frühstück erschien, und mußten die Thür aufbrechen.«
»Sie war also verschlossen?«
»Ja, Herr.«
»Von innen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen; denn es steckte kein Schlüssel in der Thür.«
»Wo lag Herr Leavenworth, als Sie ihn fanden?«
»Er lag gar nicht, sondern saß an dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers, den Rücken dem Schlafgemach zugekehrt, den Oberkörper nach vorn geneigt, den Kopf auf die Hände gesenkt.«
»Wie war er gekleidet?«
»In dem Anzuge, welchen er gestern bei Tisch trug.«
»Waren Anzeichen eines vorhergegangenen Kampfes im Zimmer vorhanden?«
»Nein, Herr.«
»Lag eine Pistole auf dem Tisch oder auf dem Boden?«
»Nein, Herr.«
»Haben Sie Grund zu vermuten, daß ein Raubmord stattfand?«
»Nein; Herrn Leavenworths Uhr und Portemonnaie befanden sich noch in seiner Tasche.«
Auf die Frage, wer zur Zeit der Entdeckung im Hause anwesend war, antwortete er: »Die beiden Fräulein Mary und Eleonore Leavenworth, Herr Harwell, Kate, die Köchin, Molly, das Zimmermädchen, und ich.«
»Sind das alle Mitglieder des Haushaltes?«
»Ja, Herr.«
»Wessen Amt ist es, allabendlich das Haus zu schließen?«
»Das meinige.«
»Haben Sie dieser Pflicht auch gestern genügt?«
»Ja, wie immer.«
»Und wer hat heute morgen die Thüren geöffnet?«
»Ich selbst, Herr.«
»Wie fanden Sie dieselben?«
»Genau so, wie ich sie am Abend verlassen hatte.«
»War kein Fenster, keine Thür offen? Besinnen Sie sich genau, bevor Sie antworten!«
»Nein, Herr.«
In diesem Moment hätte man das Fallen einer Nadel gehört, so bänglich still war es in der Versammlung geworden. Die Ueberzeugung, daß der Mörder, wer es nun auch sein mochte, das Haus nicht verlassen hatte, wenigstens nicht bevor es am Morgen geöffnet worden war, schien schwer auf den Gemütern aller Anwesenden zu lasten. Obgleich mir diese Thatsache bereits vorher bekannt gewesen, empfand ich doch eine gewisse Aufregung, als jetzt der Beweis dafür geliefert wurde, und indem ich das Gesicht des Hausmeisters scharf beobachtete, suchte ich nach irgend einem Zeichen in demselben, welches mir vielleicht verriete, ob er nicht, um eine Pflichtvernachlässigung zu verdecken, so nachdrücklich gesprochen habe. Aber der Ausdruck seiner Mienen war ebenso freimütig als fest, und er begegnete allen auf ihn gerichteten Blicken mit der Ruhe eines Felsens.
Auf die Frage, wann er Herrn Leavenworth zuletzt lebend gesehen habe, antwortete Thomas: »Gestern abend beim Essen.«
»Es hat ihn aber jemand noch später gesehen, nicht wahr?«
»Jawohl. Herr Harwell sagt, er sei noch um halb elf Uhr bei ihm gewesen.«
»Welches Zimmer bewohnen Sie hier im Hause?«
»Ein Stübchen im Erdgeschoß.«
»Und wo schlafen die anderen Mitglieder des Haushaltes?«
»Zum größten Teil im dritten Stock; die Damen in den großen Hinterzimmern, Herr Harwell in einem kleinen nach vorn gelegenen Gemach, die Dienstmädchen schlafen oben.«
»Es befand sich also niemand mit Herrn Leavenworth in derselben Etage?«
»Niemand.«
»Um welche Zeit begaben Sie sich zur Ruhe?«
»Etwa um elf Uhr.«
»Erinnern Sie sich gar nicht, vor oder nach dieser Zeit ein Geräusch im Hause vernommen zu haben?«
»Nicht das geringste,« lautete die bestimmte Antwort.
Aufgefordert, einen ausführlichen Bericht seiner Entdeckung im Bibliothekzimmer zu geben, wiederholte Thomas alle Einzelheiten mit der größten Genauigkeit, und ohne sich auch nur in den geringsten Widerspruch zu verwickeln.
»Und wie nahmen die Damen jene Entdeckung auf?« fragte der Coroner, nachdem der Hausmeister seine Schilderung beendet.
»Sie folgten uns in das Zimmer, in welchem der Mord geschehen war; Fräulein Eleonore wurde beim Anblick der Leiche ohnmächtig.«
»Und die andere Dame? Fräulein Mary, glaube ich, heißt sie –«
»Ich weiß mich dessen nicht mehr zu erinnern, da ich beschäftigt war, Wasser für Fräulein Eleonore zu holen.«
»Wann wurde Herr Leavenworth in das Schlafzimmer geschafft?«
»Unmittelbar nachdem Fräulein Eleonore sich erholt hatte.«
»Und das geschah?«
»Sobald das kalte Wasser ihr Gesicht benetzte.«
»Wer gab den Befehl, die Leiche wegzubringen?«
»Fräulein Eleonore; sie trat an den Toten heran, dabei schauderte sie zusammen und bat dann Herrn Harwell und mich, ihn auf das Bett zu legen und einen Arzt zu holen. Wir thaten, wie sie uns geheißen.«
»Begab sie sich mit Ihnen in das anstoßende Gemach?«
»Nein, Herr.«
»Was that sie denn?«
»Sie blieb am Tisch im Bibliothekzimmer stehen.«
»Und was machte sie dort?«
»Das konnte ich nicht sehen, da sie mir den Rücken zukehrte.«
»Wie lange verweilte sie dort?«
»Bei unserer Rückkehr war sie nicht mehr da.«
»Nicht mehr am Tisch?«
»Ueberhaupt nicht mehr im Zimmer.«
»Hm. – Wann sahen Sie das Fräulein wieder?«
»Sie trat wieder ein, als wir das Bibliothekzimmer verlassen wollten.«
»Hatte sie etwas in der Hand?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Vermißten Sie irgend etwas auf dem Tisch?«
»Darum habe ich mich gar nicht gekümmert.«
»Wen ließen Sie im Zimmer zurück, als sie hinausgingen?«
»Die Köchin, Molly und Fräulein Eleonore.«
»Fräulein Mary nicht?«
»Nein, Herr.«
»Hat die Jury noch irgendwelche Fragen an den Zeugen zu richten?«
Bei dieser Frage machte sich eine Bewegung unter den Geschworenen bemerkbar.
»Ich hege allerdings die Absicht,« sagte ein kleiner, aufgeregter Mann, der schon geraume Zeit auf seinem Sitz unruhig hin und her gerückt war, als könne er es nicht erwarten, den Gang der Untersuchung zu unterbrechen.
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