Sobald wir erst einmal in demselben saßen, war jede Unterhaltung über einen derartigen Gegenstand unmöglich. Ich benutzte deshalb die Zeit, darüber nachzudenken, was ich von Herrn Leavenworth wußte, und fand meine ganze Kenntnis der Verhältnisse auf die Thatsache beschränkt, daß er ein Kaufmann war, der sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, außergewöhnlichen Reichtum und eine hohe gesellschaftliche Stellung besaß, daß er ferner in Ermangelung eigener Kinder zwei Nichten in sein Haus aufgenommen hatte, von denen die eine bereits seine erklärte Erbin war. Veeley hatte zuweilen von Leavenworths Ueberspanntheit gesprochen und als Beispiel den Umstand erwähnt, daß er ein Testament zu Gunsten der einen Nichte mit gänzlichem Ausschluß der anderen aufgesetzt habe. Von seinen sonstigen Lebensgewohnheiten und seinen Verbindungen mit der Welt im allgemeinen wußte ich wenig oder nichts.
Als wir vor dem Hause ankamen, fanden wir es von einer großen Menschenmenge umdrängt. Ich hatte kaum Zeit zu bemerken, daß es ein Eckhaus von ungewöhnlicher Breite und Tiefe war, als mich das Gewühl auch schon erfaßte und mich bis an die unterste Stufe der breiten steinernen Freitreppe trug. Nachdem ich mich mit einiger Schwierigkeit aus dem Gedränge befreit hatte, da ein Stiefelputzer und ein Fleischerjunge sich an meine Arme klammerten in dem Glauben, sie würden auf diese Weise sich mit Leichtigkeit auf die Stätte des Trauerspiels schmuggeln können, sprang ich die Steinstufen hinauf, sah, daß mein gutes Glück den Sekretär an meiner Seite festgehalten hatte, und zog rasch die Glocke.
Gleich darauf öffnete sich die Thüre, und in derselben erschien ein Gesicht, welches ich als einem unserer städtischen Geheimpolizisten angehörig erkannte.
»Herr Gryce?« rief ich.
»Derselbe,« antwortete er; »treten Sie ein, Herr Raymond.« Ohne sich weiter um die draußen harrende Menge zu kümmern, über die er nur ein spöttisches Lächeln gleiten ließ, welches eine allgemeine Enttäuschung hervorrief, zog er uns in das Haus hinein und schloß die Thür hinter sich zu. »Ich denke, Sie werden sich über meine Anwesenheit hier nicht wundern,« sagte er mit einem Seitenblick auf meinen Begleiter, indem er mir die Hand reichte.
»Durchaus nicht,« entgegnete ich; dann fiel mir ein, daß ich ihm den jungen Mann, mit dem ich gekommen war, doch vorstellen müsse. »Erlauben Sie mir, daß ich Sie mit Herrn – Herrn – entschuldigen Sie, aber ich weiß Ihren Namen nicht,« sagte ich, zu meinem Begleiter gewendet; »der Herr ist der Privat-Sekretär des verstorbenen Leavenworth.«
»O, der Sekretär! der Coroner hat schon nach ihm gefragt.«
»Der Coroner ist bereits hier?«
»Jawohl, die Jury hat sich soeben hinaufbegeben, um den Leichnam in Augenschein zu nehmen; möchten Sie sich nicht den Geschworenen anschließen?«
»Nein,« erwiderte ich, »das ist nicht nötig; ich habe mich nur in der Hoffnung hier eingefunden, den jungen Damen vielleicht von einigem Nutzen sein zu können. Herr Veeley ist verreist.«
»Und da ist Ihnen die Gelegenheit, eine interessante Bekanntschaft zu machen, nicht unwillkommen, wie mir scheint,« bemerkte der Detektiv. »Nun Sie aber einmal hier sind, und der Fall sehr merkwürdig zu werden verspricht, sollte ich meinen, daß Sie als junger Advokat den Wunsch hegen müßten, sich mit demselben in allen seinen Einzelheiten bekannt zu machen. Doch folgen Sie nur Ihrem eigenen Urteile.«
Ich bemühte mich, meinen Widerwillen gegen eine persönliche Beteiligung an diesem Fall zu überwinden. »Ich werde mit Ihnen gehen,« versetzte ich.
Aber gerade als ich den Fuß auf die Treppe setzte, hörte ich die Jury herabkommen. Ich zog mich deshalb mit Herrn Gryce in eine Nische zwischen dem Empfangssalon und dem Wohnzimmer zurück, wo wir unser Gespräch fortsetzten.
»Der junge Mann behauptet, es könne unmöglich das Werk eines Einbrechers gewesen sein,« bemerkte ich.
»So –?« erwiderte er, das Auge auf die Thürklinke heftend.
»Man habe heute morgen nichts, gar nichts vermißt und –«
»Die Schlösser am Hause seien in der Frühe samt und sonders in Ordnung gewesen, nicht wahr?«
»Das hat er mir nicht mitgeteilt; wenn dem aber so ist, so muß sich ja der Mörder die ganze Nacht über im Hause aufgehalten haben.«
Gryce schielte wieder finster nach der Thürklinke hin.
»Das ist ja eine ganz fürchterliche Geschichte!« rief ich.
Gryce faßte die Klinke noch schärfer ins Auge. Und hier, geneigter Leser, gestatte mir zu erwähnen, daß Gryce kein langes hageres Individuum ist, dessen stechender Blick sich bis in das Mark Deines Wesens zu bohren und jedes dort verborgene Geheimnis zu lesen scheint, wie Du wahrscheinlich erwartet hast. Im Gegenteil! Gryce ist eine stattliche, wohlgenährte Persönlichkeit mit einem Auge, welches Dich niemals durchbohrt, das überhaupt niemals auf Dir ruht. Es verweilt überhaupt nur auf irgend einem gleichgültigen Gegenstand in der Umgebung, einer Vase, einem Tintenfaß, einem Buch oder etwas dergleichen. Diese Dinge scheint er in sein Vertrauen zu ziehen, sie zu Repositorien seiner Schlüsse zu machen, während Du selbst die Spitze eines Kirchturms sein könntest, so wenig scheinst du in den Zusammenhang seines Denkens zu gehören. Gegenwärtig war Gryce, wie schon bemerkt, in die andächtige Beobachtung der Thürklinke versunken.
»Eine furchtbare Geschichte,« wiederholte ich.
»Kommen Sie!« forderte er mich auf und musterte einen meiner Manschettenknöpfe.
Er ging voran, blieb aber auf dem obersten Treppenabsatz stehen. »Herr Raymond,« sagte er, »ich pflege nicht eben viel über die Geheimnisse meines Berufes zu schwatzen; aber in diesem Falle hängt alles davon ab, gleich zu Anfang die richtige Fährte zu finden. Hier haben wir es mit keiner gemeinen Schurkerei zu thun, ohne Zweifel ist dabei Genie thätig gewesen. Nun kommt es zuweilen vor, daß ein gänzlich unvoreingenommener Geist unwillkürlich auf eine Spur trifft, während der Fachmann im Dunkeln tappt. Sollte sich derartiges ereignen, dann denken Sie daran, daß ich der Mann für Sie bin. Verlieren Sie kein Wort an andere, sondern kommen Sie unverzüglich zu mir; denn wir stehen vor einem bedeutenden Fall, sage ich Ihnen, vor einem bedeutenden Fall – und jetzt folgen Sie mir.«
»Aber die Damen!«
»Sie haben sich in eines der oberen Zimmer zurückgezogen. Ihr Schmerz ist natürlich groß; doch sollen sie ziemlich gefaßt sein, wie ich höre.« Er trat an eine Thür, öffnete dieselbe und winkte mir.
Sobald sich meine Augen an die in dem Gemache herrschende Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich, daß wir uns im Bibliothekzimmer befanden.
»Hier genau auf derselben Stelle ist er ermordet worden,« bemerkte der Detektiv, indem er seine Hand auf den Rand eines mit Tuch überzogenen Tisches legte, der mit dem dazu gehörigen Stuhl die Mitte des Zimmers einnahm. »Sie sehen, daß sich der Schauplatz des Verbrechens direkt jener Thür gegenüber befindet,« fuhr er fort, schritt über den Fußboden und stand vor der Schwelle eines engen Ganges still, der in ein dahinter liegendes Gemach führte. »Da nun der Ermordete in seinem Stuhle sitzend angetroffen wurde, also mit dem Rücken dem Gange zugekehrt, so muß der Mörder durch jene Thür gekommen sein, um seinen Schuß abzugeben, und wird etwa hier Posto gefaßt haben.« Mit diesen Worten bezeichnte Gryce eine bestimmte Stelle auf dem Teppich, die etwa einen Fuß von der vorher erwähnten Stelle entfernt war.
»Aber –« warf ich ein.
»Hier giebt's gar kein Aber,« unterbrach er mich, »ich habe die ganze Situation aufs genaueste untersucht.« Und ohne sich weiter über diesen Gegenstand auszulassen, wandte er sich schnell um und schritt durch den Gang. »Hier stehen die Weinflaschen, da ist der Kleiderschrank und dort der Waschtisch nebst Zubehör,« setzte er mir auseinander, seine Erklärungen durch Handbewegungen erläuternd. »Leavenworths Schlafzimmer,« schloß er, als sich dieses Gemach vor uns in seiner ganzen Eleganz aufthat.
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