Auch Frieda fand zuhause nicht viel Interesse an ihren Erlebnissen. Der Vater ließ sich verächtlich über das „unnütze Zeug, Zeit- und Geldverschwendung, Spielkram reicher Leute“ vernehmen, die Mutter und die große Schwester waren vertieft in die viel wichtigeren Vorbereitungen der letzteren für ein Tanzvergnügen, das sie an diesem Abend noch besuchen wollte, und von dem man sich, besonders im Hinblick auf einen neuen Verehrer, der sie dorthin ausführen wollte, einiges versprach. Die Mutter hörte gar nicht zu, als Frieda zu erzählen begann, sie hatte den Mund voller Stecknadeln und maß und steckte an Luises Kleid herum, während diese nur die Nase rümpfte und sich wieder Federn, Glitzerschmuck und Lippenrouge zuwandte. „Du solltest dich lieber langsam mit ernsthaften Sachen beschäftigen“, riet sie der kleinen Schwester weise. „Du bist ja schließlich auch schon bald groß genug... („Nu aber mal halblang!“, zwängte die Mutter da zwischen den Nadeln hervor) ...na, stimmt doch, nur ein, zwei Jährchen noch, und ein bisschen Übung braucht’s immerhin doch dafür. Schau, das ist schließlich immer noch die einfachste und beste Art, wie wir’s zu was bringen können, wenn wir nicht zu den ganz Hässlichen gehören...“ Frieda wurde rot und lächelte teils peinlich berührt, teils geschmeichelt, und hatte bald selbst nichts anderes mehr im Kopf als schöne Kleider, Schmuck und Schminke. Und statt von den Erlebnissen des Tages träumte sie von ihrem zukünftigen ersten Ausgang, wo sie Bewunderung auf sich ziehen wollte, und von einem reichen Verehrer, der sie auf Händen tragen und verwöhnen sollte, und der natürlich noch viel mehr hermachen würde als Luises neuer Freund, mit dem sie sich so dicke tat.
Als der kleine Fritz zuhause ankam, schob er sich mit panisch klopfendem Herzen und kreidebleichem Gesicht durch die kaum ausreichend geöffnete Tür und hoffte, sich unbemerkt irgendwie in eine Ecke drücken oder gleich im Hinterzimmer verschwinden zu können. Auf den letzten Metern vor der Haustür erst hatte er festgestellt, dass seine Hosentasche ein Loch hatte und das Geld, das ihm seine Eltern in ungewohnter Großzügigkeit mitgegeben hatten, dort herausgefallen sein musste. Viel war es nicht gewesen - er hätte dem Vater davon Tabak und Zigarettenpapier mitbringen sollen und für sich selbst ein paar Bonbons oder ein süßes Gebäck kaufen dürfen, musste aber auf Heller und Pfennig Rechenschaft über die Verwendung ablegen und den Rest zurückgeben. Die Besorgung für den Vater hatte er vollkommen vergessen, und nun musste er den Eltern auch noch gestehen, dass das ganze Geld weg war! - Warum passierten auch immer ihm solche Sachen? Die anderen, besonders sein größerer Bruder, schienen immer alle Situationen ohne irgendwelche unverzeihlichen Nachlässigkeiten zu meistern. In Wirklichkeit war es wohl eher so, dass auch sein Bruder Versäumnisse beging oder ihm Missgeschicke zustießen, er aber mit einer selbstbewussten Souveränität lachend darüber und über die ihnen folgenden Strafen hinwegging. Die kleine Schwester aber, das Nesthäkchen, konnte gar nichts falsch genug machen, um in den Augen der Eltern einmal Strafe verdient zu haben. Er, Fritz, dagegen, blass, kränklich, ängstlich, lebte beständig in vorauseilender Furcht vor dem strafenden Zorn des Vaters und zog das Unheil scheinbar magisch auf sich. In den Zeiten zwischen den tatsächlichen Vorfällen lebte er in stummer, resignierter Hinnahme seiner Rolle und in leidenschaftlicher, wenn auch mehr oder weniger versteckter Bewunderung solcher Jungen, die sichtbar besser mit dem Leben und seinen Tücken zurechtkamen als er. Unter denen hatte er zuletzt speziell Johannes zu seinem Idol erkoren, ihn liebte und verehrte er weit mehr noch als seinen Bruder, wünschte sich sehnlichst, ihm gleich zu sein, oder, da dies ja wohl nicht möglich war, ihn zu seinem besonderen Beschützer zu haben. Der hatte begonnen, etwas davon zu ahnen und hatte die Aufgabe, nur halb bewusst, sich ein wenig zu eigen gemacht. Mindestens bei Auseinandersetzungen oder Hänseleien unter den Straßenkindern nahm er ihn öfter in Schutz - vor den Leiden in der Familie konnte er ihn selbstverständlich nicht behüten.
Natürlich gelang es Fritz nicht, unbemerkt ins Haus zu kommen. Als die Eltern ihn erblickten und ihn ansprechen wollten, dabei seine vor Schreck aufgerissenen Augen sahen, aus denen schon die ersten Tränen traten, verlor der Vater schon gleich die Geduld, und Mutters Brauen zogen sich in unwilliger Furcht düster zusammen. „Was ist denn nun schon wieder? Wie kommst du denn daher? Da denkt man, der Junge muss doch wohl einen schönen Tag gehabt haben, und man hat doch schließlich das Seine dazu getan, da kommt er hier hereingeschlichen wie die arme Sünde selbst. Also, was gibt’s?“ Inzwischen stand Fritz längst schon mit hängenden Schultern, abgewandtem Gesicht und tropfenden Augen da. „Jetzt wollen wir dann erst mal das Taschengeld abrechnen - wie viel hast du ausgegeben?“ Keine Antwort, nur ein tieferes Senken des Kopfes. „Antworte endlich! Steh nicht hier rum wie ein begossener Pudel! Was ist mit dem Geld, und wo ist mein Tabak?“, fuhr der Vater ihn an. Ein unverständliches Murmeln ließ sich hören, und der Junge zuckte unwillkürlich weiter vom Vater weg. Der packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn roh und schrie ihn an: „Wirst du mich wohl ansehen, wenn ich mit dir rede, und laut und deutlich antworten wie ein Mann??!“ - „Ich hab’s verloren“, flüsterte Fritz mit gesenkten Augen und konnte vor Angst sich schon kaum mehr auf den Beinen halten. „Wie?! Ich versteh’ wohl nicht gut? Verloren??!“ Und schon schallten die Ohrfeigen, griff der Vater sich die Rute, die handlich in einer Nische bereit steckte, und drosch schimpfend und fluchend auf das schluchzende Kind ein, das vor Schmerz, Reue und Verzweiflung außer sich war und, den Kopf zwischen den beiden Armen vergraben, vergeblich wenigstens den schlimmsten Schlägen auszuweichen suchte. Die Mutter ließ das alles mit abgewandtem Kopf und zusammengekniffenem Mund geschehen, die kleine Schwester stand gegen die Knie der Mutter gedrückt, ein Stückchen von deren Rock fest umklammernd, und schaute mit großen, ernsten Augen zu. Keiner der Beteiligten ahnte, dass es viel mehr Fritzens schwächliche Furcht war, der unruhig ausweichende, angsterfüllte Blick, der gar nichts anderes als rohe Gewalt zu erwarten schien, was den Vater zu solch ungezügeltem Zorn provozierte. Ralph, der Bruder, hätte einfach dagestanden und mutig gesagt „Loch in der Hose, Geld verloren, ’tschuldigung“, hätte eine Ohrfeige kassiert und wäre schulterzuckend seiner Wege gegangen.
Als der Vater endlich seine Wut abreagiert hatte, schob er den Jungen unsanft in das Hinterzimmer, wo die Betten standen, und verbot ihm, sich heute noch einmal zu zeigen. „Abendbrot gibt’s keines, klar?!“ Da lag er über eines der Betten geworfen, von wilden Schluchzkrämpfen durchschüttelt, mit brennenden Gliedern, aber des körperlichen Schmerzes kaum bewusst: In unaufhaltsamem Fall war er abgestürzt, in eine tiefe Nacht aus grenzenloser Selbstverachtung und bitterstem Überdruss, die nicht nur sein Inneres sondern das ganze ihn umgebende Universum restlos ausfüllte, und worin er so vollständig versank und sich auflöste, dass diese schwarze Finsternis ihm fast schon wieder eine paradox tröstliche Betäubung bescherte. Als nach einer ganzen Weile, während derer er so gelegen hatte und seine Schluchzer seltener und schwächer geworden waren, die Mutter leise hereinkam, sich zu ihm setzte, ihm wortlos ein Stück Brot in die Hand schob und die ihre auf seine Schulter legte, reichte der halbherzige Tröstungsversuch gerade aus, um den Schmerz mit einem leisen Wimmern neu aufleben zu lassen. Bald ging die Mutter hilflos seufzend wieder hinaus. Mit dem Stück Brot in der Hand schlief er dann endlich ein, und so ging für Fritz der Tag der bunten Ballons und schwebenden Verheißung zu Ende, indem er nur gerade eben in einer wenigstens vorübergehend heilsamen Bewusstlosigkeit erlittene Schmach und Schmerzen, seine Angst vor dem neuen Tag, dem neuen Schulzyklus, dem Rohrstock des neuen Lehrers und den mitleidlos überlegenen Altersgenossen vergessen durfte.
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