Eine Weile hatte er sich diesen Visionen hingegeben, mit heftig klopfendem Herzen, und nicht mehr auf die Dinge geachtet, die unmittelbar vor seinen Augen sich abspielten. Da erhob sich plötzlich ein tausendkehliger Aufschrei. Erschrocken sah er sich um; aber die Laubkrone seines Baumes verdeckte die Seite, nach der alle schauten. „Was ist denn los?“, rief er nach unten. „Einer ist abgestürzt! - Ein Ballon ist kaputtgegangen!“, rief es aufgeregt durcheinander. Alles Blut wich ihm aus dem Gesicht und seine Hand krampfte sich um den Ast, an dem er sich hielt. „Hast du das nicht gesehen, Hannes? - Zuerst ist er an den Zaun gestoßen, dann haben sie ein paar Säcke hinausgeworfen - Nein, die sind ihnen dabei heruntergefallen - Und er ist pfeilschnell nach oben geschossen - Und dann ist er geplatzt - Und heruntergefallen - Aber ich hab gesehen, dass so was wie ein Fallschirm aufgegangen ist, und er ist ein bisschen langsamer gefallen - Jedenfalls war er ziemlich schnell nicht mehr zu sehen.“
‚Ach, du großer Gott!', dachte Johannes. So etwas konnte also auch passieren. So schön hatte er sich gerade alles ausgemalt, aber, wie es schien, konnte aus der großen Freiheit auch ein großes Unglück werden! Er überlegte schon, ob er hinunterklettern sollte, da ging zunächst ein Raunen durch die Zuschauerreihen und dann doch tatsächlich ein lautes Lachen. Da kam auch schon Elsa über den Zaun gesprungen und rannte auf die Freunde zu: „Stellt euch nur vor, sie sind auf ein Hausdach gestürzt, irgendwo nicht weit von hier, es ist aber nichts weiter passiert - höchstens vielleicht dem Dach - und dann sind sie durchs Dachfenster hineingeklettert und trinken jetzt bestimmt Kaffee bei den Leuten!“ Da lachten sie alle erleichtert mit und waren froh, sich am Rest der Veranstaltung weiter freuen zu können, die jetzt, nachdem man sie natürlich aufgrund der Beinahe-Katastrophe erst einmal unterbrochen hatte, wieder fortgesetzt wurde.
Nun dauerte es nicht mehr lange, bis alle Luftschiffe gestartet waren und die Menge begann, in Richtung Ausgang zu drängen und allmählich sich zu verlaufen. Aber erst, als von dem letzten Ballon nicht einmal der kleinste Punkt mehr zu erahnen war, stieg Johannes von seinem Baum, half dem kleinen Max auch hinunter, und die Freunde kamen bei Agnes’ Leiterwagen wieder zusammen, um den Rückweg anzutreten.
„War das nicht wirklich einfach toll?“ rief Elsa begeistert. „Ja!“, seufzte Johannes nur. „Schön sah es schon aus, mit den vielen bunten Farben“, gab Agnes zu. „Aber wie man sieht, können sie auch abstürzen, das fand ich weniger nett.“ - „Ach was, die hatten doch einfach nur Pech. Und dann ja sogar noch Glück im Unglück. Schließlich kann einem hier unten am Boden auch so allerhand passieren.“ - „Wohin man nicht alles fliegen könnte!“, sinnierte Frieda, sichtbar mit lebhaften inneren Bildern beschäftigt. „Na, wohin wirst du denn wohl fliegen wollen, Frieda?“, spottete Rudolph. “Jedenfalls könnte man selbst nicht groß bestimmen, wohin die Reise geht, die Dinger kann man ja nicht mal lenken!“, krittelte er noch pragmatisch. „Ist doch egal! Hauptsache fliegen, Hauptsache reisen und sehen, wie es anderswo ist!“, rief Johannes. „Ah pah! Du würdest doch nie wegfahren und deine Mutter allein lassen, das glaubst du doch selber nicht!“, versetzte Rudolph. „Aber warum müsste es denn gleich weit weg sein?“, fragte Karl. „Man könnte doch jedenfalls wenigstens hier in der Gegend ein bisschen spazieren fahren. Wir würden die Kleinen in den Korb packen und einen tollen Ausflug zum Badesee machen, nicht wahr, Agnes? Und bräuchten uns schon nicht die Füße wund zu laufen.“ (Hier tauschte der Rest der Gruppe ein heimliches Grinsen aus). „Ja, oder wir könnten übers Schloss fahren und der Kaiserin ins Schlafzimmer gucken“, meinte Frieda. „Oder vielleicht“, ließ sich der stille, blasse Fritz hören und schaute dabei um Anerkennung buhlend zu Johannes hinüber, „vielleicht könnten wir wenigstens über unsere Mauer fliegen und endlich sehen, was dahinter ist.“ - „Ja, genau, das wär’s doch!“ rief der lachend, „so hoch würde man bestimmt damit kommen.“ - „Was auch immer“, sagte Agnes ganz realistisch, „sicher ist ja jedenfalls, dass wir mit so einem Ding nie fahren werden, da brauchen wir uns eigentlich auch keine Gedanken darüber zu machen, wohin wir damit wollten, oder?“
„Ja, was machen wir aber jetzt noch mit dem angefangenen Nachmittag? Wollt ihr etwa schon heim?“ fragte Rudolph unternehmungslustig. „Also, ich muss mit den Kleinen zuhause sein, wenn Vater zurückkommt, sonst kriege ich Ärger. Ich muss ja noch beim Abendbrot helfen“, sagte Agnes. „Dann begleite ich dich und helf’ dir mit der Karre“, sagte Karl schnell, was wieder von einem amüsierten Augenzwinkern der anderen kommentiert wurde.
„Kommt denn niemand mit? Ich will noch in die Innenstadt, ins Panoptikum. Ich hab auch genug Geld, ich kann jemandem den Eintritt spendieren“, plusterte sich Rudolph ein wenig großspurig, schaute aber gleichzeitig so drein, als wäre es ihm lieber, nicht beim Wort genommen zu werden. „Danke, die paar Kröten habe ich selber“, sagte Johannes, „ich muss aber noch die Wäsche für meine Mutter austragen.“ - „Ach was, dafür ist doch noch genug Zeit“, widersprach Rudolph. „Ich geh hinterher doch auch noch zu meiner Sonntagsarbeit. - „Zu deinem reichen Kaufmann, nicht?“ - „Ja, genau, Schuhe putzen für die ganze Familie - und ich kann euch sagen, die haben aber Schuhe! Wenn die wollten, könnte jeder von denen jeden Tag ein anderes Paar anziehen und hätten sie nicht mal alle durch, bis ich wiederkomme. Na ja, sie zahlen aber ganz ordentlich, und irgendwas Feines zum Abendbrot kann ich auch immer noch abstauben.“ - „Also gut, ich komme mit“, gab Johannes nach - das eben frisch erweckte Fernweh machte ihm schon Lust, sich die exotischen Sehenswürdigkeiten und die Illusionsbilder ferner Landschaften anzusehen.
Also gingen die Kinder noch ein Stück Wegs gemeinsam, bis sie sich, teils lachend, teils seufzend „Bis morgen!“ verabschiedeten und in verschiedene Richtungen auseinander liefen.
Rudolph und Johannes stürzten sich in das Gewimmel der Hauptstraßen, dem man den Unterschied zur werktäglichen Geschäftigkeit anmerkte: Pferdebusse, Elektrische, Automobile und Droschken klingelten, hupten, schrien sich den Weg frei wie sonst, und doch wohl eine Spur gelassener, und die Fußgänger hatten meistenteils kein eilig angestrebtes Ziel sondern nur den Wunsch zu flanieren, zu schauen, sich zu zeigen, aus der Entfernung die Hüte vor einander zu ziehen, die freie Zeit unter Leuten und doch in nur lockerem, unverbindlichem Kontakt mit ihnen zu genießen. Nur da und dort mischten sich solche Menschen dazwischen, die so etwas wie Freizeit und Müßiggang an keinem Tag der Woche kennen durften - Straßenverkäufer, fliegende Händler, Werbeläufer, Boten zu Fahrrad oder zu Fuß und Bettler schoben sich durch die Menge und versuchten, noch ein paar Feiertagsgeschäfte zu machen.
Nach einer Weile waren die beiden Jungen vor der Ladenpassage angekommen, in der sich das Panoptikum befand, das in prangenden schnörkeligen Lettern unter all den anderen Schildern an der Häuserfassade auf sich aufmerksam machte. Da sie dem Kassierer umstandslos den verlangten Eintritt hinstreckten, begnügte sich der mit einem abschätzigen Blick auf schmutzige Barfüße und schäbige Kleider und ließ sie wortlos hinein. Sie verschwanden in den kühlen, labyrinthischen Gängen, um vor Wachsfiguren bekannter Persönlichkeiten, seltsamen Gebrauchsgegenständen fremder Völker, ausgestopften Tieren und Guckkastenpanoramabildern von historischen Schlachten den Attraktionen dieses erlebnisreichen Tages noch einige hinzuzufügen.
Agnes kam heim mit ihrer Karre voller Geschwister, heim zu einer überforderten, kränkelnden Mutter, die den kinderfreien Tag zu ausgiebiger Bettruhe genutzt hatte. Sie kam mit den Kleinen zur Tür herein direkt in die nicht eben wohnliche Wohnküche, in der sie mit ihren zwölf Jahren schon mehr ihre Hauptwirkungsstätte hatte als die Mutter, und, ohne auf die schwächlich-quengelnden Vorwürfe zu reagieren, mit der diese sie vom Nebenzimmer aus begrüßte - spät sei es, wo sie so lange geblieben sei, das Abendessen müsse doch noch gekocht werden, und sie selbst sei heute wirklich zu unwohl dafür -, ging sie wortlos in die Ecke, wo Herd und Kochutensilien sich befanden und machte sich daran, einen Eimer voll Kartoffeln zu schälen. Kein Wort, keine Frage, keine Neugier für ihren Tag konnte sie erwarten, und so saß sie still und konzentriert an ihrer Arbeit, beflissen, das Essen rechtzeitig zur Heimkehr des Vaters fertig zu haben, um dessen Zorn nicht auf sich zu ziehen. Den hatte man nur zu leicht angefacht, glomm er doch eigentlich beständig unterschwellig vor sich hin, genährt vom Gefühl des Versagens, der Resignation, von alkoholgetränkten Kneipenstunden gemeinsam mit anderen ebenso unnützen und unzufriedenen Männern, bestärkt von dem Bewusstsein, ein gesetzlich verbrieftes Recht darauf zu haben, zum Ausgleich für dieses Scheitern eine gnadenlose Willkür- und Gewaltherrschaft über sein persönliches kleines Privatreich auszuüben. Nur hier und da kamen vor ihr inneres Auge noch Reste der heutigen Eindrücke - ein frei und hell wehender Sonnenwind, fröhliche Menschen, ein paar Stunden annähernder Sorglosigkeit, ein blauer Himmel voller lustig bunt dahinschwebender Ballons -; doch verblassten diese Erinnerungen unter dem freudlosen Realismus ihres Alltags sehr rasch, und als sie später müde in ihrem Bett lag, eng an die Schwester geschmiegt, mit der sie es teilte, konnte sie nur froh sein, dass der Abend einigermaßen glimpflich überstanden war - einer ihrer weniger schlimmen Sonntage lag hinter ihr.
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