Immer mehr Zuschauer drängten durch den engen Einlass und verteilten sich dann über die Wiesenfläche zwischen dem Zaun und einer Absperrungskette, die einen großen Kreis um das Gebäude der Gasanstalt herum freihielt. Man bummelte auf dem Grasplatz einher, nahm die in der Mitte des Feldes zusammengetragenen Gegenstände und die sich dort entfaltenden Aktivitäten in Augenschein, stand in Gruppen so dicht wie möglich an der Absperrung herum und kommentierte offensichtlich in angeregten Gesprächen das Ereignis. Viele gönnten sich auch noch eine Stärkung oder Erfrischung in einer der Restaurationsbetriebe, die unter den aufsteigenden Zuschauertribünen improvisiert worden waren. Zwischen letzteren hatte man sogar eine getrennte Loge eigens für illustre Persönlichkeiten eingerichtet und mit dicken Girlanden aus Buchsbaumzweigen und den Insignien des Herrscherhauses geschmückt. Über den Platz verstreut waren Sanitätsstationen, um etwa unter der Sonnenhitze und dem Menschenandrang zusammenbrechenden Zuschauern zu Hilfe zu eilen oder gar bei Unfällen mit Verletzungen zur Stelle zu sein. Polizisten patrouillierten zwischen der Menge, um Ordnung und reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, schwitzend unter ihren Uniformen und Pickelhauben, aber dennoch steif und aufrecht Haltung bewahrend. Und - besonders faszinierend für die Kinder - waren hier und da Tische aufgestellt und als Post- und Telegraphenstationen ausgerüstet, mit den Titeln ausländischer Zeitungen beschriftet, von wo aus Reporter so unmittelbar wie möglich Bericht an ihre Heimatredaktionen erstatteten. Fliegende Händler schoben sich mit ihren Körben und Bauchläden zwischen all diesen Gruppen hindurch und versuchten, ihre Süßigkeiten, Backwaren oder Tüten mit Obst loszuwerden.
Währenddessen ließ Johannes in seinem Baum die Mitte des Feldes nicht aus den Augen und erstattete den anderen nach unten Bericht, wann immer er im Gewirr von umeinanderlaufenden Menschen und scheinbar durcheinander liegenden Gegenständen einen Sinn zu erkennen vermochte. Als sie angekommen waren, wurden gerade bunte Bündel auf das Feld gebracht, jedes davon hatte wie Schleppenträger vier, fünf Männer hinter sich, die einen großen Korb trugen. Inzwischen waren die Stoffbündel aufgefaltet und am Boden ausgebreitet worden, so dass dieser von weitem wie ein überdimensionaler farbenfroher Flickenteppich aussah, während sich die Leute an den Körben zu schaffen machten, Dinge hineinhoben oder an den Rändern befestigten.
„Jetzt kommen sie mit großen Schläuchen aus dem Gaswerk heraus und machen sie an den Hüllen fest“, rief er nach unten. „Und jetzt drehen sie an so Rädern. Hört ihr das Pfeifen und Zischen? Bestimmt pusten sie jetzt die Ballons auf!“.
Die eben noch flach und schlaff daliegenden Stoffkreise gewannen an Dicke, wuchsen zu unförmig wulstigen Landschaften, rundeten sich langsam zur Halbkugel, Einzelne bäumten sich an einem Ende etwas auf, lupften sich vom Boden, schienen plötzlich selbständige Wesen mit Eigenleben und Bewegungsdrang. Der Eine oder Andere formte sich schon prall und rund, füllte das Netz, in dem er gefangen war, völlig aus, richtete sich auf und begann, an den Seilen zu zerren, mit denen starke Gewichte ihn ringsherum am Boden festhielten. Es war, als würde eine außerweltliche Mannschaft absurder überdimensionaler Kobolde nach und nach aus einem kollektiven Tiefschlaf erwachen und Tatendurst entwickeln. Wo die Vorbereitungen schon am weitesten fortgeschritten waren, ließ man den Ballon vorsichtig so weit hochsteigen, dass man den Korb unterhalb des Netzes befestigen konnte. So entstand schließlich ein Bild von absonderlicher Schönheit aus der Vielzahl an Farben und Mustern der Ballons in den unterschiedlichen Stadien des Aufblasens, sich gegenseitig halb verdeckend, vor-, neben-, hinter-, übereinander, manche noch fast flach am Boden, andere schon ein paar Meter darüber schwebend, im leichten Wind hin und her tanzend und ungeduldig an ihren Fesseln zerrend, fast wie eine Ansammlung bunter Seifenblasen, die sich nach und nach aus der Lauge lösen und aufsteigen.
Mit einem Mal verstummte die Blaskapelle und über ein Megaphon wurde den Zuschauern irgendetwas angekündigt, was man hier außerhalb des Zaunes nicht mehr verstehen konnte. Da stiegen von irgendwoher eine ganze Anzahl kleiner feuerroter Versuchsballons auf und entschwand rasch im blauen Himmel, und die kleinen Geschwisterkinder kreischten auf vor Vergnügen. „Bestimmt geht es jetzt bald los!“, rief man aufgeregt, und wer gerade sich im Grase ausruhte, sprang schnell auf und kletterte auf seinen Posten. Johannes klopfte das Herz schneller vor Spannung, da plärrte einer von Agnes’ kleinen Brüdern verzweifelt, er könne nichts sehen, und heulte laut los. Schnell stieg er bis zu den unteren Zweigen herunter - „Jetzt aber schnell, komm, Maxe, ich hol dich rauf“. Der Kleine lief zu dem Baum, er zog ihn herauf und wies ihm einen Platz zu, wo er sich gut festhalten konnte; dann kehrte er zu seinem eigenen Ast zurück, hoffend, dass er nicht gerade in dieser Minute Entscheidendes versäumt hätte. Kaum saß er wieder, da legte die Militärkapelle mit doppeltem Elan los, und einer der Ballons löste sich langsam aus dem Gesamtbild, stieg über die anderen hinaus, bald tauchte der Korb mit drei Männern darin auf, die jeder mit einem Sandsack hantierten und dessen Inhalt allmählich über Bord schütteten. Schon sah man bei einem weiteren Korb zwei Männer mit Hilfe einer Strickleiter hineinklettern, während eine Hilfsmannschaft sich an den Fesseln mit den Gewichten zu schaffen machte. Johannes wusste gar nicht, wohin er schauen sollte, aber dann wollte er für diesmal doch den ersten Start nicht aus den Augen verlieren. Da war dieser Ballon bereits über das Startfeld, die Zuschauerreihen und über den Bretterzaun hinweggesegelt und stand groß und mächtig gerade nur ein paar wenige Meter - so schien es doch wenigstens - dicht vor und über ihm, verdeckte ein riesiges rundes Stück Himmel, die amerikanische Flagge, die ihm an der Seite lang herabhing, wedelte im Wind, und fast glaubte er, er müsse nur die Hand ausstrecken, um den Weidenkorb berühren oder die Hände der Insassen schütteln zu können. Das dauerte jedoch nur einen Moment lang, denn schon schwebte das seltsame Gefährt, indem es gleichzeitig immer weiter an Höhe gewann, mit dem Wind davon. Immer kleiner wurde die eben noch so imposante blau-gelb gestreifte Kugel, der Korb und erst recht die Menschen der Besatzung, die gerade noch hörbar fröhlich lachend der jubelnden Menge und den Kindern hier zugewunken und sie gleichzeitig großzügig mit Sand bestreut hatten. Inzwischen war der zweite Ballon startklar und hob zu den Klängen einer anderen Hymne ebenso unaufgeregt, ruhig und um die begeisterten Zuschauerscharen völlig unbekümmert ab, löste sich von der Erdenschwere und trug seine Besatzung über die Köpfe der Menge davon. Nun folgte in ein- bis zweiminütigen Abständen, jeder mit der ersten Strophe seiner eigenen Nationalhymne geehrt und gegrüßt, ein prächtig bunter Ballon auf den anderen. Der Junge schaute und schaute sich fast die Augen aus dem Kopf, wollte noch den letzten stecknadelkopfgroßen Rest jedes einzelnen verfolgen, und fühlte sich dabei ergriffen von einer ganz neuartigen Mischung aus Euphorie, Sehnsucht und einer winzigen Spur Traurigkeit - so einfach davonschweben zu können, dem Himmel nah, und doch gerade die Erde entdeckend, erobernd - was für ein Gefühl der Freiheit und Allmacht musste das sein; neue Horizonte, heraus aus der Enge des Bekannten und Eingeschränkten, erfahren, wie es anderswo wäre, und das in der Ungebundenheit der Lüfte und nicht mühsam auf der Erde dahinkriechend wie ein Wurm; Abenteuerlust, Entdeckerdrang regten sich in ihm, und ohne klar artikulierbare Gedanken entstand in ihm die Sehnsucht, selbst einmal irgendeine Art von Pionier zu werden...
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