In diesem Moment wäre Herr Mäuthis am liebsten an jedem anderen Ort der Welt gewesen, nur nicht hier, nur nicht dieser Situation, dieser Verantwortung ausgesetzt, hätte um das Vorübergehen dieses Kelches gebetet, der ihm, bei aller pädagogischen Passion, viel zu schwer für seine noch junge Unerfahrenheit schien. Was sollte er diesem Jungen nur sagen? - Zu behaupten, dass seine Vermutungen ihn nicht überzeugten, dass er sie für völlig unwahrscheinlich hielt, wäre schlicht eine Lüge gewesen. Wenn er ehrlich war, konnte er sich wirklich vorstellen, dass es sich so abgespielt hatte: Fritz, in seiner Verzweiflung, dass nun auch noch der Freund ihn auslachte, ihm vermeintlich in den Rücken fiel, von dem er sich Protektion und Solidarität gegen die vorherrschende Geringschätzung erhoffte, hatte für einmal eine Auflehnung, ein Aufbäumen empfunden und sich vorgenommen, es allen zu zeigen, heimlich das zu üben, was er auf Anhieb und unter den kritischen Blicken der Kameraden nicht hinbekam - und nur deshalb hatte es zu dem Unfall kommen können.
Aber - einmal abgesehen davon, dass dies mit Sicherheit nur einer von vielen Faktoren gewesen war, die alle zusammen den fatalen Ausgang verursacht hatten, und es schon von daher monströs, völlig überspannt war, dass dieses Kind sich die Schuld ganz allein aufbürdete - er konnte ihn doch unmöglich diesem schon fast kranken Zustand überlassen, ihn darin womöglich noch bestärken!
Hier war ein Dilemma! Ganz deutlich empfand er, dass Johannes’ zutiefst wahre, eigentliche Unschuld gerade in diesem unverstellten Schuldempfinden, in dieser starken, echten, unbefragt angenommenen Zerknirschung, diesen untröstlich fließenden Tränen lag; jeder Versuch, ihm zu helfen - der aber andererseits unbedingt notwendig war, damit er aus der selbstzerstörerischen Reue heraus zurück ins Leben finden konnte -, jedes Ausreden, Relativieren, Kleinreden würde im selben Moment, wo es die Wunde heilen hülfe, dieses Kostbare zerstören, ein und derselbe Akt nähme ihm die Schuld und die Unschuld zugleich. Er konnte sich nur mit dem Gedanken trösten, dass kein Mensch durchs Leben komme, ohne früher oder später, in größerem oder kleinerem Umfang, offenen Auges oder aus Unachtsamkeit, schuldig zu werden, und dass ohne die irgendwann zu erwerbende Fähigkeit, sich damit zu arrangieren, kein Weiterleben möglich wäre, und machte sich seufzend an die unvermeidliche Operation.
„Aber Junge!“, sagte er, „Du verrennst dich da in einen schrecklichen Irrtum! Du kannst doch nicht wirklich denken, dass dein bisschen Mit-Lachen die Ursache für diesen schlimmen Unfall war! Wenn du dich schon schuldig fühlst - wie müssen sich dann erst alle anderen fühlen? Die Kameraden, die ihn ständig ausgelacht, gehänselt, kleingemacht haben? Und hat nicht der Vater, der ihn zu so einem kleinmütigen Angsthasen geprügelt hat, die Mutter, der große Bruder, die ihn nicht besser in Schutz genommen haben, sind nicht die Passanten, die ihn gesehen, aber nicht von seinem Treiben abgehalten haben, mindestens ebenso schuld? Schau, selbst wenn es stimmen sollte und er wirklich aus Trotz und Auftrumpfen hat üben wollen - es hätte doch deswegen nicht gleich etwas passieren müssen? Sein Jackenschoß oder was es war hätte doch nicht hängenbleiben müssen, der Trambahnfahrer hätte vielleicht besser aufpassen, schneller bremsen können, und wieso gibt es an den Bahnen überhaupt eine Vorrichtung, die solch gefährliche Spiele möglich macht? Und wenn man es zu Ende denkt...“ - Herr Mäuthis, dem dieser Aspekt gerade erst beim Sprechen in den Sinn gekommen war, musste schlucken - „Hätte ich euch nicht zu diesem Fragespiel in die Stadt geschickt, dann wäre es überhaupt erst gar nicht so weit gekommen!“
Während sein Lehrer immer weitere Argumente aufzählte, immer mehr Schultern suchte, auf die die Last der Verantwortung für die Tragödie verteilt werden konnte, hatte das unkontrollierbare Schluchzen und Zittern, in das Johannes geraten war, allmählich nachgelassen, er hatte langsam aufgeblickt und sein Gegenüber, zwar skeptisch, zweifelnd, aber auch eine Spur erleichtert angesehen. Und als der ihn schließlich fragte, ob diese Gedanken ihm denn nicht einleuchteten und helfen könnten, ob er das nicht wenigstens versuchen wolle, nickte er, mit Tränen in den Augen zwar, aber offensichtlich dankbar, wenn auch im Moment vielleicht mehr für die Anteilnahme, die Mühe, die sich Herr Mäuthis gab, ihn zu trösten, als aus Überzeugung.
„Komm, jetzt wollen wir versuchen, doch noch etwas zu arbeiten, das wird vielleicht auch etwas guttun.“
Am Freitagnachmittag - vormittags hatte es die Zeugnisse gegeben, und beim Austeilen hatte Herr Mäuthis einmal innegehalten und mit erbleichendem Gesicht eines der Hefte still zur Seite gelegt - am frühen Nachmittag waren auf die eindringliche Bitte ihres Lehrers hin fast alle Kinder der Klasse und dazu noch einige Nachbarskinder aus der Straße auf dem Stadtteilfriedhof um ein neues Grab herum versammelt, in das soeben unter rasch absolviertem Zeremoniell der Sarg aus unlackierten, einen harzigen Duft nach frischem, lebendigem Holz verbreitenden Kiefernbrettern versenkt worden war.
Viel Aufhebens machten Pfarrer und Küster nicht, zu alltäglich und unbedeutend war für sie der Anlass; sicher wartete in der Kirche, aus der sie gerade gekommen waren, schon die nächste Trauergemeinde aus diesem bevölkerungsreichen Bezirk, wo unablässig gezeugt und geheiratet, geboren und getauft, gestorben und begraben wurde. Nachdem der Geistliche das Totengebet gesprochen und die erforderlichen rituellen Gesten ausgeführt hatte, wollte er knapp grüßend die Versammlung auflösen und gehen; da trat Herr Mäuthis auf ihn zu und sprach kurz leise mit ihm. Er nickte, zuckte die Schultern und stellte sich mit ergebener Haltung, die Hände übereinandergelegt vor sich hängen lassend, den Kopf leicht geneigt, zur Seite.
Der junge Lehrer blickte einmal kurz in die Runde, schaute die vorne am Grab stehenden Angehörigen des Jungen an, räusperte sich und senkte dann wieder leicht den Kopf, während er zu sprechen begann.
„Der Herr Pfarrer war so freundlich, mir zu erlauben, dass ich noch ein paar Worte sagen darf. Das ist mir ein Bedürfnis, aus zwei Gründen: Zum einen möchte ich im Namen der ganzen Schulklasse der Familie Schabach unser aufrichtiges Beileid aussprechen und unser mitfühlendes Entsetzen über das schlimme Unglück, das ihnen das Kind, den Bruder aus ihrer Mitte gerissen hat.
Zum anderen aber möchte ich mit ein paar wenigen Worten ein kleines, kurzes, aber bewusstes Innehalten schaffen, möchte ihm vielleicht einen Grabstein aus Worten in unsere Erinnerung setzen; und möchte damit zu verhindern suchen, dass er fast so unbemerkt und nebenher von uns geht, wie er durch sein kurzes Leben ging. Denn Fritz war einer, der unter dem halben Hundert Kindern, aus dem unsere Klasse besteht, eher durch sein Nicht-Auffallen auffiel, einer, den man vielleicht besser durch das charakterisieren kann, was er nicht war: Er war nicht stark, nicht mutig, nicht frech oder vorlaut, nicht schlagfertig und wusste sich nicht zu wehren, und war insofern denkbar schlecht gerüstet für diese unsere Welt, hatte ihrer Härte, ihren Grausamkeiten, ihren Herabwürdigungen nichts entgegenzusetzen. Was er aber war: ein Dulder, ein Harmloser, einer, der für sich nichts forderte, der niemandem etwas zuleide tat und tun wollte. Dennoch: auch wenn man seine Anwesenheit deshalb leicht übersehen mochte, so hatte er doch seinen Platz in unserer Gemeinschaft und lässt diesen Platz nun leer zurück - er lässt eine Lücke, und er fehlt.
Kann sein, dass er zum Schluss, der immer Ängstliche, für einmal Mut beweisen wollte - wir werden das nie mit Sicherheit erfahren können -, und es ist ihm schlecht bekommen. Wollen wir hoffen, dass er es dort, wo er jetzt ist - wenn stimmt, was man uns von klein auf darüber erzählt hat -, dass er es dort besser, vor allem leichter hat, als er es hier je hatte und gehabt hätte.
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