An einem Tag hatte er eine besondere „Haus“aufgabe mitgebracht: In Gruppen von je ungefähr zehn Kindern sollten sie bestimmte verschlüsselt bezeichnete Gebäude oder Denkmäler in der Stadt ausfindig machen und mithilfe von Wandgemälden, In- und Aufschriften, Plaketten und Ähnlichem, die mehr oder weniger versteckt an Mauern, Eingängen, Fassaden angebracht waren, eine Liste von Fragen beantworten, um ihre Ergebnisse am nächsten Tag ihm und dem Rest der Klasse zu präsentieren.
Das war doch mal was anderes als die üblichen Rechenpäckchen, Aufsätze und Auswendiglernereien, an denen manche mit brennend müden Augen noch bis spät in die Nacht saßen - wenn sie sie denn überhaupt erledigten und nicht hofften, am nächsten Tag Glück zu haben und einfach nicht aufgerufen zu werden.
Die „Paradies“-Kinder hatten gebeten, eine der Gruppen bilden zu dürfen, noch ein paar andere Nachbarskinder hatten sich ihnen angeschlossen, und so zogen sie am späteren Nachmittag zusammen los. Rudolph trug die Liste und las die Beschreibungen der Gebäude vor, die es zu identifizieren und aufzusuchen galt, die anderen steckten die Köpfe zusammen und lasen über seine Schultern hinweg mit. Zwischen gemeinsamem Kopfzerbrechen, halb lachendem Streit, dem Wetteifern, wer als erster die gemeinte Aufschrift fände, dem Hallo, wenn sie es schließlich richtig trafen, hatten sie zwei Stunden lang einen Heidenspaß. Endlich hatten sie alle Lösungen beisammen und waren sehr stolz auf sich.
„Ob die anderen auch so schnell fertig waren?“
„Und ob sie überhaupt alles herausgefunden haben?“
„So was könnten wir ruhig öfter mal aufhaben, finde ich.“
„Dem alten Schultze wäre so was nie im Leben eingefallen.“
„Ach was, wenn der das wüsste, der dreht sich noch nachträglich in seinem Grab um, wenn er da mal drin liegt und dann an diesen Nachmittag denkt“, feixte Rudolph. Alle lachten - aus der sicheren Entfernung - bei der Vorstellung des gefürchteten alten Paukers in seinem hilflosen Zorn gegen die Neuerungen, die der junge Kollege da einführte.
„Na, Johannes, tut’s dir denn nicht doch ein bisschen leid um den Herrn Mäuthis, wenn du jetzt weggehst?“
„Doch, klar tut es das!“, gab der zu.
Ihre Erkundungsgänge hatten sie zu einem der zentralen Plätze der Innenstadt geführt, wo noch reges Treiben herrschte. Damen mit Hutschachteln und an Bändern und Schleifen hängend balancierten Konditoreikartons, Hausfrauen und Dienstmägde mit Körben voll später Einkäufe, Ladenbesitzer, die ihre Läden absperrten und zum Abendbrot nachhause eilten, Geschäftsleute, die, eine Zigarre an den Mund führend, den Zylinderhut lupfend, entspannt schlendernd von ihren letzten Terminen kamen; dazwischen fliegende Händler, Erwachsene oder Kinder, barfuß oder in Holzpantinen, ihre Bauchläden mit Streichholzschachteln, Kurzwaren und ähnlichem Kleinzeug umgehängt; abgerissene Bettler, die versuchten, der Aufmerksamkeit des Verkehrspolizisten zu entgehen, und halbwüchsige Pennäler, die, den Blick verstohlen in der gleichen Richtung, Zigaretten tauschend und rauchend beisammen standen. All dies Fußvolk kreuz und quer über den Platz strebend und sich einen sicheren Weg zwischen den Verkehrsteilnehmern auf Rädern suchend, zwischen Automobilen, Pferdefuhrwerken, Handkarren, Straßenbahnen, von denen die Gleise mehrerer Linien hier aus verschiedenen Richtungen aufeinander zu und wieder auseinander führten.
Als die Kinder von der Ostseite her auf dem Platz eingetroffen waren, hatte die tiefstehende Sonne noch eine scharfe Trennung zwischen dem Schlagschatten, in den die eine Seite bereits getaucht war, und diesem noch immer in hellem Licht badenden Teil gezogen. Während sie hier beieinander standen, schwatzend und verhandelnd, was sie noch unternehmen sollten, wuchs der schattige Teil zusehends, und die Grenzlinie zur Helligkeit wanderte allmählich über Pflaster, Schienen und Trottoir hinweg, auf dem sie standen, und schließlich Etage für Etage die Fassaden hinauf. Einzelne Fenster entflammten für Minuten heftig und verloschen dann wieder, Dachrinnen schnitten gleißende Streifen darüber, das Rot der Dächer intensivierte sich und leuchtete wie aus eigener Kraft vor dem makellos klaren Abendhimmel am Ausklang eines strahlenden Frühsommertages. Es war einer jener Momente, wo das Himmelsblau ganz deutlich nicht eine farbige Fläche zu sein vorgab, keine Grenze bot, an die das Auge stieß, sondern es im Gegenteil in eine Unendlichkeit aus Transparenzen hinauf- und hineinsog, so dass man den Halt, den Stand auf dem Boden und sich selbst in ihnen zu verlieren schien. Details und individuelle Unterscheidbarkeiten all der Gestalten und Objekte, die den weiten, offenen Platz und die Trottoirs umher belebten, traten zurück hinter den scharf umrissenen Konturen, womit sie sich seltsam rätselhaft und bedeutungsvoll vor dieser hellen Unermesslichkeit abzeichneten, und jede dahingesagte Nichtigkeit nahm den Klang einer gewichtigen Aussage vor der Ewigkeit an.
Unter dieser unbestimmt spannungsgeladenen Atmosphäre ließ Johannes, während er sich gleichzeitig am Gespräch mit den anderen beteiligte, seinen Blick unruhig über den Platz schweifen, immer in der schon zur Routine gewordenen Hoffnung, zwischen all dem Passantengewimmel doch einmal Nomi zu entdecken, und schaute prüfend in die geheimnisvoll überhöhten schemenhaften Gesichter unter Hüten, Hauben, Kopftüchern oder offenen Haaren.
Erst als die Sonne wirklich hinter die gegenüberliegenden Gebäude gesunken, der Himmel mit ersten zart-durchsichtigen Nachtschleiern überzogen und alles in eine gleichmäßig verteilte, verhalten nachleuchtende Dämmerung getaucht war, fielen Dinge, Menschen und Worte in ihre nüchterne Alltäglichkeit zurück.
Nach einigem Hin und Her hatten die Kinder einen von den mit lautem Quietschen in den Platz einfahrenden Straßenbahnen inspirierten Vorschlag, wie sie sich noch eine Weile amüsieren wollten, begeistert angenommen. Sie wollten endlich wieder einmal „Straßenbahnfahren“ spielen. Wenn die Mädchen auch erst etwas nörgelten, weil sie mal wieder nicht mitmachen konnten, ließen sie sich schließlich doch gnädig dazu herab, den Jungen ihren Spaß zu gönnen, und so zogen alle zusammen zu einer günstigen Stelle. Die lag in einer Seitenstraße hinter einer Litfaßsäule kurz nach der Ecke zum Platz hin, so dass die Bahnen mit verlangsamter Fahrt hier einbiegen mussten und die Kinder hinter der Säule versteckt auf den richtigen Moment zum Aufspringen warten konnten. Die Mädchen setzten sich auf eine niedrige Mauer in der Nähe, plauderten und hatten derweil ein wachsames Auge auf die Umgebung, damit die Jungs möglichst nicht ertappt würden und Ärger bekämen.
Fahren konnte immer nur einer, und, damit der nächste an die Reihe käme, mussten sie jeweils auf die je folgende Bahn warten. Da hier aber mehrere Linien vorbei führten, waren die Wartezeiten nicht lang. Während Rudolph und Johannes jeder schon einmal das Vergnügen gehabt hatten und jetzt Karl auf seine Gelegenheit wartete, versuchten sie, den ängstlich etwas abseits stehenden Fritz zu überreden, es doch auch einmal zu versuchen, jeder auf seine Weise: Rudolph und Karl mit herabsetzendem Spott gegen den „Feigling“, Johannes mit dem Argument, wie viel Spaß es machte und wie ungefährlich es wäre: „Du kannst ja aufhören, wann immer du willst, wenn’s dir zu schnell wird, dann springst du einfach ab.“ Zwar war auch ein inoffizieller kleiner Wettkampf im Gange, wer es am längsten aushielt und am weitesten fuhr, aber dabei brauchte Fritz bei seinem ersten Mal ja wirklich nicht mitzutun.
Nun bog der nächste Wagen klappernd und scheppernd in die Straße, war eben an der Litfaßsäule vorbei, und Karl löste sich aus der Deckung, machte ein, zwei schnelle Schritte, einen Sprung und hatte mit den Füßen auf dem Stahlnetz, das unten um den Bug des Triebwagens herum angebracht war, mit den Händen an der Griffstange neben dem ersten Einstieg Halt gefunden und sich geduckt in Stellung gebracht, um nicht aus dem Wagenfenster heraus entdeckt zu werden.
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