»Die Frau ist nicht von hier. Schon auf die große Entfernung sieht sie anders aus.«
»Du hast Recht. Ihr Gang ist unsicher, aber doch anmutiger. Sehr erschöpft scheint sie mir.«
»Und sie ist besser angezogen. Wie die edlen Frauen in den Städten. Feinerer Stoff. Schaut, wie ihr Kleid im Wind flattert!«
Der Größte wandte sein Gesicht dem letzten Sprecher zu.
»Was weißt du schon von den Städten? Du bist doch nie dort gewesen.«
Dann sah er wieder nach draußen, verfolgte die Frau mit seinen Blicken.
»Ja, sie scheint wirklich anders als die Mägde, die sich uns hingeben oder sich zumindest nicht widersetzen. Ich habe Lust auf etwas Frisches, etwas Besonderes. Los jetzt, dann erwischen wir sie noch bei den Büschen vor dem Tor!«
Eilig kletterten die vier die Leitern des Wachtturms hinab und rannten nach draußen. Vor der Mauer schwenkten sie nach links und huschten gebückt zwischen den Büschen der Frau entgegen.
Julia lief ihnen direkt in die Arme. Matt und in einem viel zu dünnen Sommerkleid, dessen Risse ihren Betrachtern nun aus der Nähe reichlich bleiche Haut zeigten, schien sie ihnen das geborene Opfer. Sie hatte ihre Lage noch nicht durchschaut, als sie sie schon an sich drückten, sie begrapschten und sie unvermittelt die Hand des ältesten, des Anführers, zwischen ihren Schenkeln spürte. Ihr Herz raste, sie spürte einen Kloß im Hals und bekam ihn einfach nicht hinunter. Schützend presste sie die Hände über ihren Schoß.
Ihr Peiniger befahl dem jüngsten, oben wieder seinen Posten zu beziehen. Mit dem Zeigefinger auf den Lippen gebot er ihm Schweigen. Andernfalls ..., er fuhr mit ausgestreckten Fingern unterm Kinn von einer Seite zur anderen. Der Junge trollte sich. Die übrigen wussten, was zu tun war. Es war nicht das erste Mal. Zwei standen Schmiere, der dritte machte sich über das Opfer her. Abwechselnd, nacheinander. Nie hatte eine Frau oder ein Mädchen auch nur einen Ton über die Schmach verloren.
Der Anführer war nun mit ihr allein, sah, wie ihr Körper bebte. Mit dem Handrücken streichelte er ihre Wange. Er nahm sich Zeit, ihr das Kleid von der Schulter zu streifen. Der feine Stoff gefiel ihm, wie alle hier trug er selbst nur grob gewirktes Zeug. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander hängen. Die Furcht in ihren Augen erregte ihn noch mehr, sie gab ihm das köstliche Gefühl von Überlegenheit. Nur ein Augenblick jedoch blieb ihm, seine Vorfreude auszukosten. Flammender Schmerz durchfuhr ihn und presste ihm die Luft aus der Lunge. Er krümmte sich, fiel auf die Knie. Beide Hände fuhren instinktiv in den Schritt, um einen weiteren Angriff ihres Knies abzuwehren, und in der falschen Hoffnung, den Schmerz wegdrücken zu können. Mit offenem Mund sah er überrascht zu ihr auf. Sein Unterbewusstsein weigerte sich zuzugeben, dass sie ihn angegriffen hatte. Immer noch unfähig, Luft zu holen, sah er ihr nach, wie sie flüchtete, schon hundert Schritte von ihm entfernt das Tor durcheilte. Eben noch hatte sie so erschöpft ausgesehen! Sie musste wohl ihre letzten Kräfte eingesetzt haben.
Ihr Angriff hatte sie noch begehrlicher gemacht. Als er wieder atmen konnte, ignorierte er den Schmerz und hastete ihr hinterher. Eilig rief er seine Kumpane zu sich. Sie holten auf, je weiter sie ins Dorf rannten, und weideten sich an ihrer Angst. Die paar Knechte und Mägde, an denen sie vorbeiliefen, hoben die Köpfe und sahen ihnen stumm nach. Niemand wollte sich mit ihnen anlegen. Die drei warfen sich gegenseitig aufmunternde Blicke zu, ihres Erfolges waren sie sich sicher: Gerade war die Frau in eine Koppel gerannt. Eine Sackgasse.
»So ein …«, fluchte der Anführer. Jäh sahen sie sich ihres Vergnügens beraubt, als ein lauter Befehl über den Dorfplatz hallte. Keiner hatte mehr daran gedacht, dass der Bauer penibel auf das Ende der Wachschicht achtete. Wenn er schon seine Knechte zum Wachdienst abstellen musste, gab es Feierabend für sie nach der Wache erst, wenn er sie entlassen hatte. Wutschnaubend und mit geballten Fäusten kehrten die drei um und trotteten ihrem Herrn entgegen.
Julia achtete nicht darauf, dass sie sich schon mehrere Fingernägel abgebrochen hatte. Sie beeilte sich, das Brett in der Wand des Unterstandes am Ende der Koppel ganz lose zu rütteln und zwängte sich durch die geschaffene Lücke. Auf der anderen Seite umrundete sie das Haus und überwand hastig den offenen Platz dahinter. Zwar erblickte sie einige Dorfbewohner, wagte aber nicht, sich ihnen anzuvertrauen, sie wollte sich nur verstecken. Für einen Augenblick verlor sie die Orientierung, und nachdem sie den Überblick wiedergewonnen hatte, wandte sie sich zwischen zwei der Häuser. Den Menschen, die sie sah und hörte, ging sie aus dem Weg. Ohne es bemerkt zu haben, gelangte sie zurück in die Nähe des Tores. Daneben entdeckte sie nun ein mögliches Versteck. Sie sah sich nach allen Seiten um, erspähte niemanden und rannte hin. Verfolgte man sie, hatte man sie laufen sehen, ihre Richtung erkannt? Wo waren ihre Peiniger von eben?
Ihr Herz raste, und ihr Atem ging stoßweise. Gern hätte ihre Brust mehr Platz gehabt, sich zu heben und zu senken, aber Julia klemmte zwischen der Mauer und dem Trog fest. Sie saß auf der Erde, die Knie ans Kinn gequetscht, sie hatte sich in die Lücke hineinrutschen lassen. Ihre Schulter brannte. Sie hatte sie sich aufgeschrammt, aber das war jetzt nebensächlich. Ab und zu reckte sie den Hals zur Seite und äugte durch den Spalt, sorgsam war sie darauf bedacht, den Kopf nicht über die Kante zu heben, obwohl ihr Sichtfeld stark eingeschränkt war. Sie musste sich zusammenreißen, ihrem Drang nach mehr Übersicht nicht nachzugeben.
Wenigstens ließen die Tiere sie in Ruhe! Als sie über das niedrige Gatter geklettert war, hatte sie ein paar Ziegen, Schweine und Geflügel verscheucht, die wie sie selbst langsam wieder zu Atem kamen. Sie war froh, dass sich offenbar niemand die Mühe machte, der Unruhe auf den Grund zu gehen. Nun nahm sie sich Zeit, das Umfeld ihrer Zuflucht in Augenschein zu nehmen, soweit es ihre Sicht erlaubte.
2.
Das Fachwerkhaus duckte sich hinter die Mauer aus gebrannten Ziegeln. Scherben aus Glas und die scharfen Bruchstücke zahlreicher Tonkrüge waren in die Mauerkrone eingelassen und machten ein einfaches Überklettern unmöglich. Auch ein Ork hätte ohne Hilfsmittel die Oberkante nicht erreichen und sich hinüberziehen können. Zumal Orks gewöhnlich ihr Schwert in der Hand hielten und ihre restliche Habe in einem über die Schulter geworfenen Beutel trugen. Zudem fügte sich das Anwesen, selbst rundum von jener Mauer geschützt, in die Umfriedung des Wehrdorfes ein und bildete einen Teil des Schutzwalls. Früher waren die Dorfbewohner ohne Furcht ihrem Gewerke nachgegangen, auch wenn sie dafür das Dorf verlassen mussten. In diesem und im letzten Jahr jedoch hatten sie ihre Ernte zitternd eingefahren. Solche Wehrdörfer gab es zuhauf im Land zwischen den Morgenbergen und dem Lafer, dessen Quelle irgendwo nördlich der von Menschen bewohnten Lande lag.
Das Haus selbst war alt und L-förmig. Eine Längsseite nahm der Gastraum ein, das verbleibende Innere war die von dort einsehbare Küche mit gemauerten Kochstellen und einer Feuergrube. Über der hielt ein Küchenjunge einen Bratspieß in Bewegung. Der Platz neben dem Gebäude war zum Dorf hin durch ein Gatter aus roh behauenen Fichtenstämmen begrenzt, an den Hauswänden reihten sich Tröge mit Wasser, Gras und Essenresten aus dem Wirtsraum aneinander. Es roch nach Heu und Dung. Hier war das Kleinvieh untergebracht, das demnächst am Spieß oder in den großen Töpfen zubereitet werden sollte.
Eigentlich hieß das Gasthaus Zur gebratenen Wildsau . Jedermann, der regelmäßig hierher kam, hatte jedoch selten mehr Worte übrig als mitzuteilen, er ginge »zur Sau«. Die Sprache in diesem Land war derb, nicht selten zotig. Der Innenraum des Wirtshauses war zum Dachstuhl hin offen. An den vom Alter gekrümmten Balken und Sparren fanden sich vereinzelt Nester, vor allem Spatzen versuchten, mit ihrem Gezwitscher die Erzählungen und das Lachen unter sich zu übertönen. In Nischen standen große Tische. Die Bänke darum füllten sich nun zur Zeit der Abenddämmerung. Bauern und Handwerker hatten ihr Tagwerk verrichtet und gaben sich dem Wenigen an Vergnügen hin, das ihr Land und ihre Epoche ihnen ließen: dem säuerlichen Apfelwein, der nach einigen Krügen doch lustig machte, und ihren Gesprächen. Oder der Wiederholung von Erzählungen, die reisende Händler aus anderen Ecken des Reiches hierher gebracht hatten. Geraucht wurde nicht, Tabak war unbekannt. Das war gut, denn die Luft war ohnehin zum Schneiden dick.
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