Die erste Sorge war unbegründet, hier, im „mittleren Westen“ des kleinen Königreichs, war es um diese Jahreszeit ziemlich lange hell, die zweite aber nicht.
Sie hatten nämlich nicht vorgebucht, und die Schranke am „Henne-Camping“ war ab 18 Uhr unten. – Später erfuhren sie, dass fast alle anderen, ob Camper oder Häuschenmieter, im Voraus gebucht hatten und ihren Schlüssel beim Købmand vorfanden, der das Dorf versorgte und bis 22 Uhr geöffnet hatte.
Egal! Sie ließen das Auto draußen und schleppten Zeltsack samt Heringen, Stangen und ihren Schlafunterlagen zu einem Rasenflecken, wo das Campieren aller Wahrscheinlichkeit nach erlaubt wäre. Morgen würden sie sich an der Rezeption melden und schlugen schon mal ihre kleine Behausung auf.
Jetzt war es 20 Uhr geworden und die einzige Restauration hatte gerade zu gemacht. Später erfuhren sie, dass die vielen Gäste aus Deutschland, die meist mit kühlschrankbewehrten Bulli-Autos oder zumindest großen Kombis mit Kind und Kegel angereist waren, sowieso nicht vorhatten, ein dänisches Restaurant aufzusuchen. Wegen der gesalzenen Preise war man hier in der Regel Selbstversorger, kaufte beim Købmand nur Rundstykker -Brötchen und was an Frischem unbedingt sein musste. Ansonsten hatte man die Verpflegung für zwei Wochen im Fahrzeug gebunkert dabei…
Hier waren die Deutschen in ihren „dänischen“ Familie-ferie weitgehend unter sich.
Nach einer windigen und regnerischen Nacht, in der auch noch die Luft aus der Doppel-Schlafmatratze entwichen war und das Zeltdach immer mehr nach innen durchbeulte, wachten die beiden ziemlich zerschlagen und durchgefröstelt auf.
Auch die sanitären Verhältnisse gestalteten sich jetzt schwierig: Ohne Schlüssel mussten sie warten, bis ein Gast aus dem Klohäuschen herauskam und schnell, trotz pikierter Blicke einen Fuß in die Tür bringen.
Jetzt machte sich auch Herberts „Zahnarztrücken“ bemerkbar, mit dem er schon seit er dreißig geworden war ab und an zu kämpfen hatte (als Reiterin war Britta in der Beziehung da resistenter) und er schlich gequält zur Rezeption, um sich anzumelden.
Hier sprach jeder deutsch, und so fragte er gleich nach einem Miet-Häuschen, er sei wohl doch nicht so zum Camper geboren.
„Leider alles ausgebucht“, sprach kopfschüttelnd der Däne in seiner sympathischen Aussprache, „aber fragt gerne drei Kilometer landeinwärts, da gibt´s immer etwas.“
Dann sagte er freundlich „Farwell“ , nicht ohne 250 Kronen für die windige Nacht zu kassieren…
In Henne-Hede wurden sie fündig, 3½ km von der Nordsee entfernt und 750 D-Mark teuer – für eine Woche – plus Endreinigung – natürlich alles für die geplanten drei Wochen im Voraus zu bezahlen. – Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an; immerhin würden sie hier selbst kochen können, um teure Restaurantbesuche im dänischen Kro zu vermeiden…
Jetzt mochte es ja endlich richtig gemütlich – hyggelig – werden!
Allerdings konnte Herbert auch hier nicht so richtig abschalten wie er es eigentlich vorgehabt hatte: Die wacklige Finanzlage der Praxis ging ihm nicht aus dem Kopf. Entweder müssten jetzt bald mehr zahlungskräftige Patienten zur Behandlung strömen - möglichst mit Bedarf für hochwertigsten Zahnersatz, oder es fänden sich andere Einnahmequellen… Vielleicht in der Alternativ- oder wie man heute freundlicher sagte Komplementärmedizin?
Das Potential des Bioresonanzen- Gerätes schien noch lange nicht ausgeschöpft; allerdings wäre eine Anschaffung richtig teuer…
So gingen die dänischen Tage nur halbwegs entspannt und bei wechselhaftem Wetter dahin: Morgens wusste man nicht, ob man bei 17 Grad wirklich draußen auf der Terrasse frühstücken sollte. Da sich auch die Sonne eher spärlich zeigte und immer irgendwoher Wind kam, verzogen sie sich doch meistens hinter die großen in alle Richtungen weisenden Fenster, wie sie hier so typisch waren, um auch den letzten Rest Sonne und Licht hereinzulassen.
Mittags machten sie stürmische Spaziergänge über Heide und Dünen, nachmittags gab´s viel Kaffee und dänischen Zuckerkuchen, den der K øbmand in langen Streifen verkaufte.
Strand- oder gar Badewetter gab es in diesem Urlaub nicht so wirklich, und so machten sie Ausflüge nach Hvide Sande – der Ort schien hauptsächlich aus Angelgeschäften zu bestehen – und nach Søndervig, wo sich am breiten Strand zwischen deutschen Bunkerruinen besonders die Hunde- und Lenkdrachenbesitzer gefährlich breit machten.
Sie flohen und besuchten die nahe Kerzenmanufaktur zum Selber-Wachs-Eintauchen, wo ihnen dann aber zu viel Kindergeschrei in den Ohren dröhnte. Ein paar Kilometer weiter - in Ringköbing – wunderten sie sich schon nicht mehr, dass es hier mit den Wimpeln über den Straßen mit Udsalg -Geschäften im Nieselregen zwar ganz hübsch, aber auch nicht spannender zuging als in Esbjerg einige Tage zuvor.
Britta und Herbert ahnten natürlich, dass es an ihnen selber lag, dass sie es nicht schafften, bei gesundem und typisch dänischem Wetter einfach mal die Seele baumeln zu lassen, und sie waren fast froh, am Samstag Strom und Wasser ablesen zu dürfen, den Verbrauch in Kronen in die bereitliegende Tüte zu zählen und Umschlag samt Hausschlüssel beim Købmand wieder abzugeben.
Die Fahrt nach Hause ging schneller als die Hintour; in Kiel schien tatsächlich die Sonne und am Montag wartete ein neuer Arbeitstag.
Die „Auftragslage“ blieb mau, und das änderte sich auch mit Schulbeginn nur geringfügig. Ende Juli bekamen ja die Studenten ihre verdienten Semesterferien, als Patienten würden sie erst im Oktober wieder zur Verfügung stehen.
Bald war ein halbes Jahr seit der Praxisgründung ins Land gegangen. Britta und Herbert hatten sich alles in allem ganz gut in der Landeshauptstadt eingelebt, die sich aber jetzt im November auch nicht gerade von ihrer schönsten Seite zeigte: Grauverhangener Himmel, Dauerregen und eine fast schon winterliche Kälte drückten auf die Stimmung. Die sonnigen Tage und die beschwingte Atmosphäre der Kieler Woche waren mit dem Schlussfeuerwerk abrupt vorbei gewesen und jetzt lange vergessen. Es schien, als hätte alles in einer ganz anderen Zeit und am anderen Ort stattgefunden.
Vielleicht war der Herbst ja die Zeit, mal wieder im Glückstempel einzukehren, dachte Herbert, Herr Nielsen von der Hausbank hatte sich für nächste Woche schon wieder angemeldet – aber nicht als Patient: Er wollte ein Gespräch über die Tilgungsmöglichkeiten des Betriebsmittelkredits führen, von Bürgschaften und Umschuldung war vage die Rede gewesen…
Ideal wäre jetzt ein Lotto-Jackpot – oder ein schöner Gewinn beim Roulette, das würde alles erträglicher machen.
Tatsächlich wurde der Samstagabend ein echtes Highlight: Nach dem kleinen Showprogramm, das Huber neuerdings alle vier Wochen präsentierte – mal Chansons, mal Comedy, mal ein Artist oder Zauberkünstler – alles sauber und stubenrein – wurden die Spielwütigen an die Tische gebeten.
Der freundliche Herr hatte sie wie immer bestens gelaunt willkommen geheißen und einen Daumen zum Zeichen seiner besonderen Glückserwartungen in die Höhe gereckt.
Herberts „System“ funktionierte auch diesmal: 500 DM wurden in Chips getauscht, die Hälfte auf rot / schwarz oder pair / impair gesetzt und der Gewinn weiter riskiert. Bei 250 Restguthaben hörten sie konsequent auf, oder bei 1000 Mark Gewinn. - Heute schafften sie tatsächlich wieder den Tausender Gewinn. Besonders Britta wachte über dieses strenge „Reglement“, und Herbert überlegte, vielleicht auch mal ohne sie aufzukreuzen, um etwas freier disponieren zu können.
Schon an einem Sonnabend vier Wochen später ergab sich tatsächlich diese Gelegenheit, weil Britta plante, zu ihren Eltern nach Hamburg zu fahren und dort auch ein vorweihnachtliches Klassentreffen ansteuern wollte, dem ersten nach über 10 Jahren, die seit dem Abi vergangen waren. Also würde sie über Nacht bleiben, und Herbert zählte die Stunden und war fast froh, als sie nach kurzem Abschied endlich um 18 Uhr 30 losgebraust war. Sie hatte sich zu seinem Ärger einen schnittigen Stadtflitzer zugelegt, ganz schön teuer, aber die Hälfte hatte Papi zum 29. Geburtstag gestiftet.
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