Am besten würde man sich ein Limit setzen von ein paar hundert Mark, deren Verlust noch leicht zu verkraften wäre. Und wenn es gut lief, vielleicht eines von tausend Mark, nach dessen Gewinn man sich zufrieden vom Tisch erheben und nach Hause gehen könne: Alles nur eine Frage von ein bisschen Willensstärke. Das wäre auch für die Bank die beste Variante, damit sie nicht unberechenbare Glückssträhnen einzelner Glückspilze auszuhalten hätte, der Confériencier kicherte.
„Eine typische win-win -Situation eben!“ Das letzte Bonmot hatte Huber selbst beigesteuert, der damit die „Spiele für eröffnet“ erklärte und im Schlenderschritt auf Britta und Herbert zukam, nonchalant das Champagnerglas in der linken Hand schwenkend.
Die beiden waren gerade im Gespräch mit einem Patienten-Ehepaar, das über ihre Erfahrungen mit den Weisheitszähnen zu erzählen begonnen hatte. Herbert kannte solche Situationen aus der Kleinstadt, wo er auch mal Assistent gewesen war; eigentlich hasste er sowas und hatte gehofft, die Großstadt würde sie davor bewahren.
„Super-Doktoren, die beiden“, dröhnte Herr Huber dazwischen, als er zu der Gruppe stieß: „Darf ich sie Ihnen kurz entführen?“ Und er lud die beiden ein, ihm ein paar Schritte zu folgen und am nächsten „Roulette-Table“ Platz zu nehmen.
Eigentlich waren sie jetzt ganz dankbar dafür, von den beiden Wissbegierigen weg zu kommen. „Nun mal ran ans ganz große Glück!“ meinte ihr Gastgeber: „Mit einem Freiguthaben könnt ihr ja gar nicht verlieren. Entschuldigt das Duzen, das ist meine bayrische Art“.
Damit hatte er natürlich Recht…; solange man sich nicht dazu verführen ließ, nach dem Verlust der 250 Mark, neue Jetons zu ordern.
Dazu kam es aber gar nicht: Herbert hatte sich eine kluge Taktik zurechtgelegt, er würde nur „rot“ oder „schwarz“, respektive „pair“ oder „impair“ spielen, eine reelle 50%- Chance also, wenn man von der sehr unwahrscheinlichen Zero-Null einmal absah.
Er setzte also in ihrer ersten Runde die ganzen 250 Mark auf „rot“ und war sicher, genug Willenskraft zu besitzen, bei einem Verlust sofort aufzuhören und zusammen mit Britta zu gehen.
Dann hätten sie eben einen amüsanten Gratis-Chanson- und Champagnerabend genossen. - Aber sie gewannen! Und verfügten damit über 500 D-Mark als Spielgeld. Jetzt bloß nicht alles riskieren, sondern nur eine Hälfte des halben Tausenders auf „ungerade“ gesetzt – und wieder gewonnen! Die nächsten 250,- gingen zwar verloren und man war wieder bei 500, aber die beiden nächsten 250 Mark-Einsätze gewannen wieder: Sie waren bei 1000 D-Mark angekommen, bedankten sich überschwänglich beim generösen Huber und schritten in gehobener Stimmung zum Kassenschalter, um ihren Tausender in Empfang zu nehmen. Ein Tausend-Mark-Schein mit dem Abbild der Märchen-Brüder Grimm, gewonnen mit einem intelligenten System zweier willensstarker Menschen, das erschien den beiden wirklich wie im Märchen.
„Wiedersehen macht Freude!“ rief ihnen der freundliche Herr Huber nach, als sie die Spielsaal-Treppe beschwingt hinuntersprangen, um noch einen Absacker in der nahen Kieler Altstadt zu genießen, das Einzige, was sie an diesem Abend bezahlen würden…
Dann bestiegen sie den Bus Nummer 42 in Richtung Blücherplatz, wo sie zu ihrer kieferholzmöblierten Wohnung strebten und den Fernseher im Wohnzimmer einschalteten. Es gab also auch hier ein Leben jenseits ihrer bürgerlichen Biederkeit. Jetzt bloß nicht übermütig werden!
Sie hatten den „Tatort“ von 20 Uhr 15 mit ihrem neuen VHS-Videorecorder aufgezeichnet, Manfred Krug als Kommissar Stöver aus Hamburg. Morgen würde wieder ein aufreibender Tag in der Praxis auf sie warten¸ vielleicht könnten sie ja in 14 Tagen wieder einmal in der Huber-Welt vorbeischauen…
Aber erst einmal begann Ende Juni der Ausnahmezustand der „Kieler Woche“, die sie in ihren Bann zog. Erstaunlich, wie die Stadt jetzt aus ihrem Dornröschenschlaf des übrigen Jahres zu erwachen schien: das maritime Flair rund um die Kieler Förde, die Pulks weißer Segel in Schilksee, die zu den Regattafeldern strebten, die gute Laune, die die Musikgruppen und die Straßenkünstler auf den Plätzen der Stadt verbreiteten und die ausgelassene Stimmung der Menschenmassen, die an den unzähligen Event- und Bewirtungsbuden entlang der Kiellinie entlang flanierten, dazu die vielen lachenden Kinder, die sich bei kostenlosen Spielen auf der „Spiellinie“ tummelten: Ein solches Volksfest hatten sie in der sonst so kühlen Stadt im Norden nicht erwartet und sie ließen sich von der Atmosphäre der Festwoche mitreißen.
Kurz darauf wurde es schnell wieder ruhiger in der Stadt. Mit der anbrechenden Zeit der Schulferien fuhren viele Kieler in den Urlaub, vier Wochen später taten es ihnen die Studenten gleich, die auch einen guten Teil der Patienten gestellt hatten.
So wurde es merklich leerer in der Praxis, der „horror vacui“ des dritten Jahresquartals hatte begonnen. Britta und Herbert wären gelassener geblieben, wenn sie geahnt hätten, dass es auch den meisten der alteingesessenen Kollegen nicht anders erging.
Allerdings hatten die nicht die drückende Last sich stetig vermehrender Schulden auf dem Gemüt. Trotzdem erschien es den beiden richtig, ab Mitte Juli erst mal für drei Wochen die Praxis zuzumachen, eine Helferin als „Stallwache“ zum Weitervermitteln von Schmerzpatienten und zur Terminvergabe „einzunorden“ und die anderen in den Urlaub zu schicken.
Den wollten auch Britta und Herbert nehmen: Das Auf und Ab von positivem und negativem Stress („Eustress und Distress“ – das hatten sie in einer Psychofortbildung gelernt) war ermüdend gewesen und zehrte nachhaltig an ihren Nerven. Drei Wochen Urlaub konnten sie gewiss gut gebrauchen.
Alle „Nordlichter“ schienen Skandinavien zu lieben, und so entschlossen sie sich, Dänemark anzusteuern. Herbert war von der derzeitigen Praxisflaute besonders geknickt und meinte, wenn der Umsatz zurückging, müsste man auch auf der Ausgabenseite sparen: So wurde ein handliches Zwei-Personen-Zelt erstanden, samt Isomatten und Luftmatratzen. Und so ging es ab zum legendären und angeblich preiswerten Hennestrand. Dahin waren es von Kiel auch nur 270 Kilometer und die sollten in 2 ½ Stunden zu schaffen sein.
Leider war das ein Irrtum: Sie fuhren am Samstag – wie alle anderen auch. Da sie nach Frühstück und Verladen von Sack und Pack, samt Fahrrädern auf dem Heckträger des Cabrios, erst nach 11 Uhr loskamen, konkurrierten sie auf den vollen Straßen mit den Frühaufstehern aus dem Süden, die schon fünf Stunden unterwegs waren. Auf der Rader Hochbrücke über den Nordostsee-Kanal kam der Verkehr zum ersten Mal zum Erliegen: erst mal eine halbe Stunde Stau bei schönstem Sonnenwetter, da konnten sie sich schon mal in Gleichmut üben.
Als sie Kolding passierten und in Richtung Esbjerg nach Westen abbogen, waren schon mal vier Stunden vergangen und auch das Wetter umgeschlagen.
Weil sie wieder auf einen Stau auffuhren, machten sie bei 15 Grad und dänischem Nieselregen Pause in Esbjerg, einem, im Gegensatz zum nahegelegenen hübschen Ribe, eher langweiligen Hafenort mit einer überschaubaren Innenstadt. Über der unbelebten Einkaufsstraße hingen die obligatorischen Leinen mit nassen Sommerwimpeln, die meisten Geschäfte hatten wie immer scheinbar ganzjährig Ausverkauf: „Udsalg“ und „Tilbud“ allerorten. Irgendwie hatten sie hier das Gefühl, der Sommer sei gerade vorbei – oder er müsste frühestens nächste Woche zu erwarten sein.
Sie fröstelten, aßen eine rote Knackwurst mit zäher Pelle und tranken eine überteuerte Cola an der Pølserbude . Mittlerweise war es schon nach 17 Uhr und sie beeilten sich weiterzufahren, damit sie nicht im Dunkeln ankämen und der Campingplatz womöglich geschlossen hätte.
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