Die Zweierteams wechselten an jedem Kurstag die Rollen: „Behandler“ und „Helferin“.
In den Wartezeiten galt es natürlich, die Patienten bei Laune zu halten oder deren schwäbische Geschichten mit schrecklichen Zahnarzterfahrungen anzuhören. Wenn das Loch endlich als sauber beurteilt wurde, durfte die Unterfüllung mit Phosphatzement gelegt werden, den „die Helferin“ auf kühler Glasplatte angespachtelt hatte, während die angehende Zahnärztin mit pausenlosem Watterollenwechsel beschäftigt war. – Wieder Testat und anschließendes Abdecken der Kavität mit warm-plastischer Guttapercha: „Vorsicht, nicht den Mund mit heißem Heidemannspatel verbrühen!“
Nach zwei Stunden Kurszeit den Termin für nächste Woche vergeben; ob die Patienten wohl wiederkämen? Wenn nicht, wären die nächsten zwei Stunden verplempert, es sei denn, ein Assistent würde ihnen einen neuen „Schmerzpatienten“ weiterleiten.
Säumige rief man schweren Herzens an oder klingelte sogar an ihrer Haustür, um sie mit Engelszungen zum Durchhalten zu bewegen, schließlich ginge es ja um ihre Zähne, deren Prognose ansonsten fraglich wäre.
In Wirklichkeit fürchtete natürlich jeder eher eine „infauste“ Prognose für den Kons1-Schein der Zahnerhaltungskunde, denn ohne Endtestat des Oberarztes über die fertiggestellte und polierte Füllung würden die Vortestate wenig nützen…
Wenn´s aber gut lief, wurde der Zahn beim nächsten Mal mit Kohlensäureschnee als „vital“ getestet, die Guttapercha rausgebrokelt und eine tofflemire Matritze angeschlungen.
Auch deren perfekter Sitz, gegebenenfalls mit Holzkeilchen optimiert, musste testiert werden. Dann wurden drei Portionen Silber-Amalgam angerüttelt und das „Schneeballknirschen“ desselben geprüft. Die „Helferin“ stukte es in die „Amalgampistole“, und der oder die Behandler(in) zirkelte die graue Masse Portion für Portion in die Kavität und „kondensierte“ immer wieder mittels Kugelstopfer.
Zwischendurch: pausenloses Wechseln der – besonders von ängstlichen Patienten ständig durchgespeichelten - Watteröllchen.
Wenn alles gut ging und die dreiflächige Füllung nicht beim ersten, „vo-o-orsichtigen“ Zubeißen des Patienten zerbrach, folgten endlose Okklusionskontrollen mit blauem Färbefilz und das modellierende Ausarbeiten, „ carving “ genannt.
„Eine Stunde gar nicht draufbeißen und einen ganzen Tag nur sehr behutsam“ wurde angeordnet und dem Patienten die absolute Notwendigkeit der Politur in den nächsten Tagen eingeschärft.
Komplizierter wurde es noch, wenn die bisher noch easy ausführbare „Caries profunda“- Behandlung nach Abtragen der letzten dünnen Kariesscholle ein Blutströpfchen erkennen ließ: Die Pulpa war „geknackt“, und obligatorisch musste die gefürchtete, steril gehaltene „Endodontiebox“ ausgepackt werden. Hektisch wurden auch Röntgenbilder herausgesucht oder neu angefertigt und mit zitternder Hand die Anästhesie aufgestockt. Manchmal kam jetzt allerdings stattdessen wegen Zeitmangels die bewährte Cortisonpaste „Ledermix“ zur Anwendung und wurde auf die unheimlich tiefe Stelle im Abgrund der Kavität gegeben, mit Watte abgedeckt und schnell mit Cavit zugeschmiert.
Ob jetzt der Patient wiederkäme, stand wirklich in den Sternen: Schließlich folgte eine verzögert einsetzende Schmerzentwicklung einer statistischen Wahrscheinlichkeit…
Eine Wurzelbehandlung war jetzt unerlässlich und erforderte die „absolute Trockenlegung“ unter Kofferdam . Mit diesem rigiden Spanngummi stand fast jeder Student (und Zahnarzt) auf dem Kriegsfuß. Allzu leicht machte man einen Fehler beim Ausstanzen des Löchleins, durch das der Zahn gesteckt werden sollte oder beim Überstreifen der womöglich abspringenden Kofferdamklammer. Das übersichtliche Eröffnen der Pulpenkammer und besonders das Aufbereiten der Wurzelkanäle war selbst für den versierten Praktiker immer wieder eine Herausforderung, für den Anfänger fast unmöglich. Immer wieder kam es zu Brüchen der Kanalinstrumente und zum betretenen Abgeben des Patienten an einen manchmal auch überforderten Assistenten, der einen „zum Dank“ womöglich beim Professor anschwärzte.
Es gab aber natürlich auch freundliche und zugewandte Assis, die mit langer Mähne wie ein Kommilitone auftraten und sich studentisches Mitgefühl bewahrt hatten.
Ein Semesterkollege berichtete, er sei für 2,50 Mark zum Haareschneiden im „Studentenkurs“ der Frisörlehrlinge gewesen. Die beiden gingen bei nächster Gelegenheit hin und feixten wegen der offensichtlichen Ähnlichkeit des Ambientes, wo die Jungen ihr Glück an Freiwilligen versuchen mussten und von ihren Handwerks-Assistenten kontrolliert bis schikaniert wurden.
Schikanös fanden manche auch die ersten Kurse in der Kieferorthopädie, wo die einzige Professorin der Zahnklinik präsidierte.
Sie ließ die Kandidaten verschiedenartig mäandrierende Schlangen aus federhartem Stahldraht biegen und prüfte die 30 cm langen Gebilde mit spitzem Zeigefinger, ob sie auf Druck ruhig auf dem Tisch liegen blieben: Falls nicht, durften sie umgehend wiederholt werden; sie knipste sie durch mit der Schneidezange und wischte sie in den Müll – was wenigstens zwei bis drei Stunden Mehrarbeit bedeutete.
Stresserfahren war man also, wenn man in Tübingen das Examen glücklich absolviert hatte und so machte sich Herbert keinen Kopf, als am kommenden Montag Herr Meier wieder auf der Matte stand: Die vollverblendete Keramikkrone wurde eingepasst und erforderte nur wenige Handgriffe des Einschleifens, das lief sonst nicht immer so glatt.
„Passt, wackelt und hat Luft“, hatte der lustige Prothetikprofessor immer gesagt. Schnell war die Krone eingesetzt und der Zementrest entfernt: „Zubeißen bitte – und fertig!“
Vorn am Rezeptionstresen überreichte die Helferin feierlich den „Liebesbrief“. Der biedere Meier beabsichtigte Barzahlung, griff zum Portemonnaie und nestelte einen Hunderter heraus, um gleich darauf den Umschlag mit der Rechnung zu öffnen. Als er die Summe von 360 D-Mark erkannte, fragte er die freundliche Assistentin wie sich der Betrag zusammensetzte, was davon Kassenleistung und was Eigenanteil sei. „Das hat schon alles seine Richtigkeit so“, meinte sie, die 360,- seien ja der Eigenanteil, für solch eine Luxuskrone ein wahres Schnäppchen.
Herr Meier wurde erst blass und lief dann rot an: „Luxus“ war für ihn ein echtes Reizwort! Als ehemaliger Verwaltungsangestellter hatte er sich Heil- und Kostenplan und Kassenanschreiben durchaus genauer angesehen und die circa 85 Mark Eigenanteil für die „wirtschaftliche, ausreichende und zweckmäßige Maßnahme“ penibel registriert.
Herbert hörte aus dem Behandlungszimmer das Crescendo der Diskussion und hoffte noch, die Überzeugungskraft seiner versiertesten Mitarbeiterin würde ihre Wirkung nicht verfehlen, da stand sie schon in der Tür: „Herr Doktor – da wird ein Patient ausfallend“. Von Unverschämtheit, Geldschneiderei und sogar „dusseliger Kuh“ sei die Rede gewesen.
Da Herbert zum Examen auch ein Büchlein über medizinische Psychologie durchgeblättert hatte, war ihm der Begriff der Deeskalation und des „Spiegelns nach Prof. Rogers“ in Erinnerung geblieben: „Sie fühlen sich also ungerecht behandelt“, sprach er sein Gegenüber mit bebender Stimme an, das gerade im Begriff war wie früher das Zigaretten-Männchen aus der Fernsehwerbung „in die Luft zu gehen“. Was heißt hier ungerecht? – betrogen fühle ich mich“, keuchte Herr Meier:“ 85 Mark und keinen Pfennig mehr werde ich zahlen!“
„Aber wir haben doch eindeutig über die Mehrleistungen gesprochen“, stammelte Herbert, dem schon schwante, dass er mit seinen unter dem Mundschutz hervor genuschelten Bemerkungen zu dem auf der Liege „ausgelieferten“ Patienten rechtlich auf glattem Parkett stehen würde. „Na gut“, räumte er um des lieben Friedens willen ein, „war wohl ein Missverständnis, nichts für ungut und auf Wiedersehen.“
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