Das war der richtige Zeitpunkt, ihn vom Mehrwert einer voll keramikverblendeten, hochästhetisch zahnfarbenen Superkrone zu überzeugen. Mit dem vergrößernden Handspiegel demonstrierte Herbert kurz, wie ansonsten jedermann den chromblinkenden Kunstzahn hässlich funkeln sehen könnte; dabei zog er Meiers Zunge, unter der der 7er normalerweise unsichtbar verschwand, ordentlich zur Seite.
Na also, Meier nickte verdutzt und wunderte sich noch mehr, als Herbert mit einem merkwürdigen Gestänge erschien. „Die hoch abriebfeste Keramikoberfläche erfordert natürlich eine zumindest halbindividuelle Registrierung der cranio-mandibulären Situation mittels Gesichtsbogen“ flötete der etwas offenbar Fachchinesisches heraus, was Meier aber schon nicht mehr mitbekam, weil Herbert ihm flugs die Ohrhalterungen des Bogens in die Gehörgänge stopfte. „Jetzt einmal schön in diese wachsbelegte Bissgabel einbeißen, alles horizontal ausrichten – und fertig“ murmelte Herbert mehr zu sich selbst als zu dem überrumpelten Meier. „Schnell verdienter Hunderter extra“ dachte er im Stillen, wohl wissend, dass die Superregistrierung zur Herstellung einer Einzelkrone von den meisten Fachleuten für eher überflüssig gehalten wurde.
Zusammen mit dem Mehrhonorar für die Keramik und der größer werdenden Laborleistung würde Herr Meier nächste Woche gut 260 Mark mehr zahlen müssen als er vielleicht glaubte; der dicke Mercer, mit dem er immer vorfuhr, verriet doch wohl, dass er es auch konnte…
Nachdem noch die üblichen Abdrücke genommen und das Provisorium auf den Zahnstumpf gesetzt war, bedankte sich der Patient für die zügige und schmerzfreie Behandlung und versprach, in acht Tagen wie üblich pünktlich zu erscheinen.
Dann würde es sich wieder einmal auszahlen, dass Herbert eine fundierte, wenn auch manchmal als schikanös empfundene Ausbildung an der renommierten Tübinger Zahnklinik genossen hatte. Wehmütig dachte er an die spannende Zeit des klinischen Studiums zurück, das er vor gut zweieinhalb Jahren abgeschlossen hatte:
Nach dem ziemlich schwierigen Physikum, das er nur im praktischen Prothetikteil gut, ansonsten eher schwach bestanden hatte - die Paukerei in den medizinischen Grundlagen der Anatomie, Physiologie und Biochemie war nicht gerade sein Ding gewesen - hatte er sich auf die Arbeit am Patienten gefreut, die ihm liegen würde und den Kopf nicht so rauchen lassen sollte.
Sein Vater in Burgwedel hatte angeblich immer Freude am Beruf und der Arbeit mit dankbaren Patienten gehabt und ihn auch schon kleine Behandlungen unter Aufsicht machen lassen: Sogar einfache Extraktionen durfte er bei gutmütigen Patienten das ein oder andere Mal ausführen. Auch Füllungen aus Zement, Amalgam und Kunststoff hatte Herbert schon einige Male fabriziert, nachdem der Vater die Zähne gut ausgebohrt und vorbereitet hatte.
So machte ihm die Arbeit am Gummikopf, die im ersten klinischen Semester auf ihn zukam, wenig aus. Die Kunststoffzähne, die in die Kiefer des „Phantomkopfs“ eingeschraubt waren, zu präparieren, machte ihm sogar Spaß, obwohl es indirekt, mit Funzellicht und Zahnarztspiegel, gar nicht so einfach war: Wer erwischt wurde, dass er den Kunststoffkiefer oder einzelne Zähne aus dem Kopf herausschraubte, um alles schneller in der Hand zu beschleifen, wurde disqualifiziert und musste den Kurs wiederholen. Das war tatsächlich seinem Freund Diether aus der Physikums- Arbeitsgruppe passiert, mit dem sich Herbert den Kursplatz geteilt hatte.
Sie assistierten sich wechselseitig als „Helferin“ und teilten Freud und Leid. So sollte es eigentlich auch im 2.Klinischen Semester weitergehen, wo man an echte Patienten kommen sollte.
Aus dem Plan wurde nichts. Der arrogante Chef des Phantomkurses wollte ein Exempel statuieren, obwohl Diether ihm versicherte, er hätte bei dem schönen Sommerwetter nur etwas früher nach Hause gehen wollen und könnte ihm seine Fähigkeiten im indirekten Präparieren durchaus demonstrieren.
„Dann haben Sie jetzt ja viel Zeit fürs Freibad“ meinte der Professor süffisant und bat ihn, sich erst zu Beginn des nächsten Semesters wieder zu melden.
Dem geschickten Herbert blieb in diesem Semester auch ohne Schummelei genug Zeit fürs Freibad, das hatte er sich nach der Plackerei bis zum Physikum auch redlich verdient.
Im Tübinger Schwimmbad, neckaraufwärts am südwestlichen Stadtrand direkt neben dem Fluss gelegen, vergnügte sich an warmen Sommertagen jeder Student, der es sich irgendwie erlauben konnte, auch wenn es mal ziemlich eng wurde. Herbert konnte es sich erlauben, war aber nicht wenig überrascht als er eines Nachmittags aus dösender Trägheit durch ein Kitzeln am großen Zeh geweckt wurde. Er blinzelte und vor ihm stand – eine blonde Schönheit, die mit ihrem Zeh an seiner Fußsohle krabbelte und ihn offenbar verwechselt hatte. Als er genauer aufwärtsguckte, kam sie ihm doch irgendwie bekannt vor: Richtig, es war die Neue aus seinem Semester, die sich wohl aus dem hohen Norden ins Schwabenland verirrt hatte und die ihm vielleicht schon mal über den Weg gelaufen war; eine Augenweide, das Mädchen, nie hatte er erwartet, dass sich so eine für ihn interessieren könnte.
Britta allerdings war der dunkelhaarige athletische Herbert durchaus schon im Semester aufgefallen, nicht weil er herausragend gut aussah oder etwa ein charmanter „womanizer“ gewesen wäre, ganz im Gegenteil, er schien ihr aber freundlich zu sein und mit einer Geschicklichkeit begabt, die lange nicht jeder Zahnmedizinstudent besaß und die aus ihm bestimmt mal einen guten Zahnarzt werden lassen würde.
Er stand auf und lud sie auf ein Vanilleeis in der Freibadbar ein, was sie jetzt gar nicht mal so uncharmant fand, und dankbar annahm…
Britta kannte ihre Wirkung auf junge Männer nur zu gut, und gerade im Freibad konnte auch der lustloseste kaum ihren Reizen widerstehen und so hatte sie Herbert schnell um den kleinen Finger gewickelt, als das Thema auf die lästige Arbeit im Phantomkurs kam. Sie hätte ja mitbekommen, dass ihm sein Platzpartner abhandengekommen sei, und es wäre doch nett, wenn sie zusammen ein Team werden könnten. Herbert stimmte begeistert zu, ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen, dass da vielleicht Brittas bisheriger Partner auf der Strecke bleiben würde. Den eitlen Oberarzt vom Platztausch zu überzeugen, fiel Britta nicht schwer, sie musste nicht einmal auf die zurechtgelegte Begründung zurückgreifen, dass sie die Zugluft am bisherigen Arbeitsplatz nicht vertragen könne.
Mit Herberts Hilfe bekam auch sie vier Wochen vor Semesterende ihren Phantomkursschein, und sie konnten in vollen Zügen das Freibadwetter und ihre aufkeimende Liebe genießen…
In den Ferien allerdings wollte sie mit den Eltern eine Kreuzfahrt unternehmen und sich dann in Hamburg wieder intensiver dem Rappen widmen.
Im Oktober würde es endlich an die Patienten gehen, gut dass sie einen geschickten Partner hatte…
Im 1. Kurs der konservierenden Zahnheilkunde dauerte eine Füllung furchtbar lange. Auf jeder Seite des Kurssaals gab es circa zehn Behandlungseinheiten in Reihe mit halbhohen Zwischenwänden, auf denen gelbe Lämpchen installiert waren. Das war das Rufzeichen für den Assistenten und wurde anfangs gleich zuhauf angeknipst, weil er die erste Anästhesie geben sollte, damit die Studenten loslegen konnten. Das konnte dauern. Wenn die Spritze wirkte, ging die Lampe wieder an, weil ein Assi den betreffenden Zahn mit der Turbine aufziehen musste. Das durften sie selbst erst nach einem entsprechenden Testat…
Dann erst fing man an zu „bohren“. Mit langsam laufendem Rosenbohrer ging es der Karies zuleibe. Immerhin waren die altertümlichen „Doriot-Gestänge“ vor kurzem durch moderne „Mikromotoren“ ersetzt worden.
Dann wieder: Lämpchen an! und zehn Minuten auf den Assi warten, der das Testat „Karies entfernt“ im Kursheft abzeichnen sollte, aber natürlich noch eine versteckte braune Stelle erspähte und „weiterbohren!“ befahl.
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