Herr Meier knallte jetzt seine genau abgezählten 85 D-Mark auf den Tresen, schnaubte: „Auf Nimmerwiedersehen!“, und knallte die Praxistür von außen zu.
Nach Abzug der ziemlich teuren Laborleistung, die Herbert dem Zahntechniker würde zahlen müssen, war sein Umsatz für die aufwändige Behandlung – inklusive Kassenleistung - damit auf knapp 50,- zusammengeschnurrt: Irgendetwas machte er wohl falsch, dachte er sich…
Zudem hatte sich Herr Nielsen von seiner Hausbank angekündigt, er hatte tatsächlich einen Behandlungstermin gebucht, aber wahrscheinlich würde es auch um die leidige Verlängerung des Betriebsmittelkredits gehen, ohne die müssten sie die Praxis in zwei Wochen schließen!
Am übernächsten Tag war es soweit: Der Patient setzte sich schwitzend in den Behandlungsstuhl. Sein Zischeln war wieder sehr deutlich, und der „erfahrene“ Herbert dachte natürlich gleich an „ insuffizienten Zahnersatz“, dessen Ersatz lukrative Abrechnungsmöglichkeiten eröffnen würde. Mittlerweise kannte er das Phänomen, dass ängstliche Patienten sich nicht zurückzulehnen trauten, manche ließen sogar die Füße neben der Liege stehen und waren selbst mit dem Versprechen, dass heute nur berührungsfrei „nachgeguckt“ werden würde, kaum zum Flachlegen zu bewegen.
Ganz so phobisch verhielt sich dieser Nielsen zwar nicht, er zog aber beim Platznehmen eine dicke Aktentasche auf seinen Schoß und nestelte zwei Papiere heraus: „Neue Konditionen für Betriebsmittelkredit“ stand über dem einen, „Unterschriftsblatt betreffs Zinsanpassung“ auf dem anderen. Herbert blieb keine Wahl: Der Kredit wurde um ein halbes Jahr prolongiert, der Zins stieg von 6 auf 7 ½ Prozent.
Als Herr Nielsen endlich den Mund zur Befunderstellung weit öffnete, atmete Herbert tief durch: Hier kam echter Behandlungsbedarf auf ihn zu! – Jetzt nur keinen Fehler machen! Erstmal wurde ein aussagefähiger Röntgenstatus erstellt, dann ein penibel genauer Befund erhoben. Dass die bisherigen Teilprothesen nicht mehr lange zu halten waren, erschien völlig klar, die Klammerzähne waren extrem gelockert und müssten wohl extrahiert werden. Also war neben dem allgemeinen und dem Karies-Befund auf jeden Fall auch der Parodontal-Status zu erheben!
Die ganze Diagnostik dauerte jedenfalls eine Dreiviertelstunde, die wirtschaftliche Aufklärung über den Zahnersatz- Plan mit ausführlicher Erwähnung möglicher kostensteigernder Komfortalternativen zur Grundversorgung noch einmal so lange. Gute Kommunikation brauchte eben Zeit – der Patient konnte entscheiden!
Die beste Variante sollte um die 25.000 D-Mark kosten, Herrn Nielsen ein Kauen „wie in jungen Jahren“ ermöglichen und der Praxis schon mal eine etwas rosigere Zukunft verheißen…
Der Patient wurde mit den notwendigen Unterlagen für seine Krankenkasse und der Zusatzversicherung entlassen, nicht ohne ihm die allersanfteste Behandlung in die Hand zu versprechen. Herbert sprach aber nicht aus, was ihm in der letzten Stunde immer klarer geworden war: Das würde ein längerer und für beide Seiten nicht wenig anstrengender Weg werden…
Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten: Nielsen rief in der darauffolgenden Woche an und verlangte die Röntgenaufnahmen, um eine „zweite Meinung“ einzuholen; den würden sie wohl so bald nicht wiedersehen, zumindest nicht als Zahnarztpatient!
Nur gut, dass Britta unauffällig und solide arbeitete, merkwürdigerweise erzählte sie gar nicht so viel von ihren Behandlungen wie Herbert von seinen. Sie hatte wohl weniger Stress – oder zu ihr kamen die vernünftigeren Patienten!
Andererseits sagten die Kollegen vom Zahnärzteverein gern: „Jeder bekommt die Patienten, die er verdient…“
Unbestritten aber brauchten sie ein paar zahlungskräftige Privatpatienten, damit es mit dem Betriebsmittelkredit ein gutes Ende nähme.
Für Herbert hatte sich jetzt ein Herr Huber, Franz angemeldet, er kam zum ersten Mal in ihre Praxis und war auch nie beim Vorgänger gewesen:
Eine gut gekleidete, geradezu elegante Erscheinung trat an den Rezeptionstresen. „Ma´ hört ja nur a Guates über die zwei neuen Doktoren hier bei Ehana“, sagte er mit sonorer Stimme und leicht bayrischem Tonfall. Mit seiner charmanten Art und einer mit Augenzwinkern herübergeschobenen Schachtel „Mon Cherie“ hatte er die Helferinnen gleich für sich eingenommen. Gut, er hatte diese versnobte Goldrandbrille auf der Nase mit leicht getönten und ziemlich verspiegelten Gläsern, aber die würde er ja für die Behandlung sowieso abnehmen müssen; bestimmt hatte er sympathisch braune Augen…
Dann war da aber noch ein leicht befremdlicher Umstand: Der Patient brachte einen Hund mit, einen jungen Golden Retriever, der zugegebenermaßen ein Prachtkerl war wie auf der Hundefutter- Reklame, hübsch, gut gepflegt und gut erzogen. „Fand leider keinen Sitter für ihn“, meinte der Halter entschuldigend, „der bleibt aber im Wartezimmer ganz friedlich, solange er mich nicht schreien hört“, lachte er und zwinkerte den Damen zu, „ein Scherz, nicht wahr?“
„Ihr könnt´s ihn freilich auch für a halbes Stündchen ausführ´n“, meinte er dann und winkte fröhlich mit einem 20er in Richtung der jungen Auszubildenden. Die errötete leicht und piepste: „Warum nicht, wenn´s der Chef erlaubt?“
Herbert erlaubte, zugunsten der Praxishygiene und anderer Patienten, die sich vielleicht gleich noch her verirren könnten.
Der wie sein Haushund gut frisierte Huber nahm im Behandlungszimmer Platz und seine goldumrandete Pilotenbrille herunter: Er hatte blaue Augen, wirklich ein freundlicher Herr, Mitte 40 und mit einem einnehmenden Wesen. Bevor er das markante Kinn fallen ließ und die Zähne zeigte, gab er noch zum Besten: „I bin privat versichert und Selbstzahler, bei mi kannst´ alles machen, Dokterchen, was gut und teuer is´, zahle alles bar. – Bloß schee muaß es sei´, gell?“
Herbert räusperte sich: „Ja, da ließe sich wohl einiges tun… Erst mal den Befund erheben und röntgen… Amalgam kommt natürlich alles heraus, ist zwar bei Ihnen einigermaßen stabil und wirkt randdicht, aber alles voller Quecksilber, ein Nervengift, Sie verstehn?“
Herr Huber wusste Bescheid, er hatte alles Wichtige dazu in seiner Bilderzeitung gelesen. Aber war nicht auch im renommierten „Spiegelblatt“ dazu Wesentliches beigetragen worden? Man war ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen…
„Oh“, dachte Herbert, „dann also mit allen Schikanen.“ Sein Dentaldepot hatte ihm doch gerade letzte Woche ein Angebot gemacht, das hochaktuelle Naturresonanzen- Gerät kostenlos zu testen. „Bei den immer zahlreicher werdenden achtsamen und zahlungskräftigen Patienten sollte es sich schnell amortisieren“, hatte es im Werbe-Flyer geheißen, und, dass es neu „nur“ 15.000 Mark kosten würde.
Herbert war zwar von der Anti-Amalgam-Kampagne nicht voll überzeugt, schließlich hatten sie das am besten wissenschaftlich untersuchte Material in der Zahnmedizin in Studium und Assistentenzeit immer häufig und gerne verwendet. Immer noch galt es, gerade auch für die Krankenkassen, als Standardversorgung. Es ließ sich solide verarbeiten und hielt häufig „ewig“ lange. Letzteres Argument fand er aber in seiner jetzigen Situation gar nicht mehr so überzeugend…
Andererseits boten ja sogar etliche Zahnärztekammern in letzter Zeit Fortbildungen an, die mehr Esoterik als Wissenschaft zu vermitteln schienen, man musste sich also bei so einem Geräteeinsatz nicht schämen und befand sich dabei in bester Gesellschaft.
Herr Huber war sofort vom angepriesenen Vorgehen überzeugt: Ganzheitlich-biologische Diagnostik mittels des spacigen Gerätes, etappenweise Entfernung des üblen Amalgam-Giftes, sodann homöopathische Ausleitung mittels Berberis- und Mercurius solubilis- Globuli in D12-Potenzierung!
Читать дальше