Als der Film endlich ein Ende fand, schaltete ich erleichtert den Fernseher ab, während Poppy sich noch eine Weile darüber aufregte, dass ihre Eltern sie zwangen übers Wochenende nach Neah Bay zu ihren Großeltern zu fahren. Neah Bay war eine kleine Hafenstadt im Nordwesten Washingtons. Es war von dieser Sorte Kaff, wo jeder jeden kannte.
Also hielt sich Poppys Begeisterung auch dementsprechend in Grenzen. Nachdem wir noch ein wenig über alltägliche Dinge geplaudert hatten, nahm ihr Gesicht einen ernsteren Ausdruck an und sie sah mich ruhig aus ihren klaren, braunen Augen an. Sofort wusste ich, dass sie nun das Thema zur Sprache bringen würde, über das ich am allerwenigsten reden wollte.
»Drea«, setzte sie an und rückte ein Stück näher. »Ich weiß, dass du letzten Samstag nicht bei irgendeiner Freundin geschlafen hast und ich weiß auch, dass ein gewisser Englischlehrer mit in dem Club war. Mir ist nicht entgangen, wie du vorhin aus seinem Klassenraum geflüchtet bist. Ich kann eins und eins zusammenzählen«, sie hielt kurz inne und legte ihre Hand auf meine. Ich senkte den Blick, da ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte.
»Es ist okay, wenn du nicht darüber reden möchtest. Aber du sollst wissen, dass du mir alles erzählen kannst. Ich bin immer für dich da. Jederzeit.«
Ihre einfühlsamen Worte beruhigten mich sofort und ich erwiderte ihr warmes Lächeln. Sie drängte mich also nicht dazu, über letzten Samstag zu reden. Das rechnete ich ihr hoch an. Zwar klang das so ganz und gar nicht nach dem kleinen, naseweisen Wirbelsturm namens Poppy, doch wenn ich absolut nicht über etwas sprechen wollte, hatte sie Verständnis dafür. Ich wusste auch gar nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich verstand diese ganze Situation ja selbst nicht einmal. Meine Reaktion auf Logan Black war mir ein Rätsel.
»Danke Poppy, das bedeutet mir viel«, ich drückte ihre Hand.
»Ich bin eben die Beste«, sie zuckte nur mit den Schultern, schnappte sich wieder die Schüssel mit dem Popcorn und stopfte sich eine weitere Handvoll in den Mund. Ja, Poppy war wirklich die Beste.
»Hm, da wäre aber noch etwas, Drea«, brachte sie zwischen zwei Bissen hervor. »Du würdest es mir ja sagen, wenn Mr Black genauso gut küsst, wie er aussieht, oder?«, das altbekannte Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Und da war sie wieder, die alte Poppy. Ich rollte mit den Augen und griff nach dem nächstbesten Kissen, welches ich ihr direkt ins Gesicht donnerte. Poppys Kichern wurde durch das Kissen erstickt und auch ich konnte mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen.
»Du bist unmöglich, weißt du das?«, lachend schüttelte ich den Kopf. Poppy stand grinsend auf und fegte sich ein paar Krümel von der Hose. Ich erhob mich ebenfalls und brachte sie noch zur Tür. Bevor sie allerdings hinausging, drehte sie sich nochmal zu mir um.
»Timmy und ich gehen heute Abend ins Barney’s. Wenn du Lust hast mitzukommen, dann holen wir dich so gegen sieben Uhr ab.«
Das Barney’s war eine Art Café für Jugendliche, der angesagteste Treffpunkt für Leute in unserem Alter. Der perfekte Ort, um mit Freunden abzuhängen, einen kleinen Happen zu essen und über die neusten Gerüchte zu quatschen. Vor dem Unfall meiner Mom vor zwölf Wochen hatte ich mich dort beinahe jeden Abend mit Poppy, Timmy und Danny getroffen.
War ich denn schon bereit dazu, wieder ins Barney’s zu gehen? Ich würde den anderen aus meiner Schule begegnen, womöglich auch Danny. Auf ihn hatte ich am allerwenigsten Lust. Ich war verunsichert. Einerseits würde mir etwas Ablenkung nicht schaden, um mich von meinen ständigen Grübeleien über Logan Black abzubringen und um etwas Zeit mit meinen Freunden verbringen zu können.
Andererseits hatte ich dadurch wieder dieses merkwürdige Gefühl, als würde ich zu meinen alten Normen zurückkehren und den Tod meiner Mom verleugnen. Ich konnte doch nicht einfach ganz normal weiter machen, als hätte es den Unfall nie gegeben, als hätte es Mom nie gegeben... Das konnte ich nicht.
»Ich weiß nicht…«, unschlüssig sah ich auf meine Füße.
»Wie du magst, überleg es dir. Wir würden uns wirklich freuen, wenn du mal wieder mitkommst.«
Poppy verabschiedet sich mit einem Lächeln und ich schloss die Tür hinter ihr. Als sie wegfuhr trottete ich nach oben in mein Zimmer und wusste nicht so recht, was ich mit mir anstellen sollte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach drei. Also beschloss ich für Dad und Lukas schon einmal etwas zu kochen. Ich machte mich an die Arbeit und stellte das Gericht anschließend kalt.
Ich schloss gerade die Tür des Kühlschranks, als ich das gedämpfte Vibrieren meines Handys wahrnahm. Ich hatte es völlig vergessen. Noch immer befand es sich in meiner Tasche, die Logan mir heute zurückgegeben hatte. Ich kramte das Gerät heraus und erschrak. Ich hatte sechzehn Anrufe in Abwesenheit. Allerdings waren sie noch von gestern, als ich bei Logan gewesen war und niemand gewusst hatte, wo ich mich aufhielt. Die Anrufe waren hauptsächlich von Dad, ein paar von Lukas und Poppy und … Danny.
Weshalb hatte er versucht mich gestern anzurufen? Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass er heute Morgen etwas in der Richtung erwähnt hatte. Und tatsächlich, er hatte es insgesamt drei Mal auf meinem Handy versucht. Wieso tat er das? Ich verstand Danny einfach nicht. Er hatte die Beziehung mit der Begründung beendet, dass er mich nicht mehr lieben würde. Nach dem Tod meiner Mom hatte er mir zwar immer mal wieder geschrieben und versucht mich anzurufen, doch ich hatte auf keinen seiner Kontaktversuche reagiert.
Ich kam nicht dahinter, was er damit bezweckte. Vielleicht versuchte er ja unsere Freundschaft aufrechtzuerhalten? Aber selbst wenn das seine Beweggründe waren, so war es doch selbstverständlich, dass man nach einer Trennung erst einmal etwas Abstand brauchte, oder nicht? Wie auch immer, Danny konnte mir gestohlen bleiben.
Ich löschte seine Anrufe und checkte die SMS, die eben eingegangen war. Sie war von Poppy. In der Nachricht stand, dass sie mein Nicht-Bescheid-sagen als Zusage wertete und mich mit Timmy heute Abend um sieben abholen würde. Natürlich hätte ich absagen können, aber aus irgendeinem Grund tat ich es nicht. Ich hatte heute Morgen so viel Spaß mit Poppy gehabt, ihre Nähe tat mir gut und ich wollte nicht, dass dieser Tag schon zu Ende war.
Also gab ich ihr mein okay und wollte mich gerade nach oben begeben, als ich das Umdrehen eines Schlüssels vernahm. Dad und Lukas kamen von der Arbeit nach Hause. Anstatt nach oben zu gehen, begrüßte ich die beiden und beschloss gemeinsam mit ihnen eine Kleinigkeit zu essen.
»Wo ist eigentlich Mia?«, fragte ich, als mir auffiel, dass Dad ohne sie gekommen war.
»Sie ist nach dem Kindergarten noch mit zu Lucy nach Hause. Ich hole sie später dort ab«, erwiderte Dad, als er seine Post öffnete.
»Ich gehe heute Abend mit Poppy und Timmy ins Barney’s.«
Dad hielt mitten in der Bewegung inne und sah mich erstaunt an.
»Das ist eine wunderbare Idee, Drea«, sein Gesichtsausdruck hellte sich sofort auf und mit einem Mal schien er viel fröhlicher als zuvor.
Nach dem Essen ging ich nach oben und machte mich fertig. Zwischenzeitlich vernahm ich Dads Wagen im Hof starten, wahrscheinlich um Mia bei ihrer Freundin abzuholen. Kurz darauf hörte ich draußen auch schon das vertraute Hupen von Timmys Wagen. Ich schnappte mir meine Tasche und eilte die Treppe herunter zur Haustür.
»Viel Spaß«, rief mir Lukas noch von der Küche zu, bevor ich das Haus verließ und durch den Regen zu Timmys blauen Chevrolet sprintete. Ich ließ mich auf die Rückbank sinken und begrüßte die beiden. Sie drehten sich zu mir herum. Auf Poppys Gesicht lag wie immer ein Grinsen. Timmy dagegen musterte mich grimmig und griff daraufhin in seine Hosentasche. Er zog ein paar Dollarscheine hervor und klatschte sie in Poppys Hand.
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