Auch wenn sie es nicht so offen zur Schau stellten oder selten darüber sprachen, kämpften Dad und Lukas täglich mit dem Verlust meiner Mom, ich konnte es in ihren Augen sehen. Wo würde es hinführen, wenn sie sich nun auch noch ernsthafte Gedanken um mich machen mussten? Ich wagte es nicht so weit zu denken.
Ich musste nun stark sein, für meinen Bruder Lukas, der Mom genauso sehr geliebt hatte wie ich, der ihr ständig und jeden Tag irgendwelche unmöglichen Witze erzählt hatte, nur um sie zu ärgern, weil er wusste, wie wenig sie diese Scherze mochte. Ich musste stark sein für meinen Dad, der nach achtundzwanzig Jahren Ehe seine beste Freundin und die Liebe seines Lebens verloren hatte. Doch vor allem musste ich stark sein für meine kleine Schwester Mia, die gerade mal vier Jahre mit ihrer Mutter erleben durfte und nun eine der wichtigsten Bezugspersonen ihres Lebens verloren hatte. Ich musste irgendwie aus diesem Tief herausfinden und zurück ins Leben kehren. Es gab so viele Menschen, die mich liebten und brauchten, ich konnte sie nicht im Stich lassen. Das Schwierige daran war nur, wenn man einmal in dieses schwarze Loch geblickt hatte, fand man nicht mehr so einfach heraus.
Ich schloss die Augen und rief mir Moms warmes Lächeln in Erinnerung, ihre sanften Gesichtszüge und ihre beruhigende Art. Augenblicklich ließ der Schmerz meinen Magen krampfen und Übelkeit stieg in mir auf.
»Ich vermisse dich so sehr, Mom«, flüsterte ich und die Tränen bahnten sich einen Weg über mein Gesicht. Ich war noch nicht bereit an sie zu denken, geschweige denn über sie zu reden. Der Schmerz über ihren Verlust saß noch zu tief.
Schnell versuchte ich das Bild von ihr zu verdrängen und begab mich in mein Zimmer, um mich mit Logans Roman abzulenken. Doch mein Blick fiel plötzlich auf den grauen Pullover, der über meinem Stuhl hing. Mit einigen Schritten hatte ich das Zimmer durchquert, nahm ihn und streifte ihn mir über. Sofort umfing mich der Duft von Logans herbem Aftershave. Der Pullover fühlte sich weich auf meiner Haut an und gab mir absurder Weise ein gewisses Gefühl von Halt. Ich kuschelte mich in mein Bett. Dann griff ich nach dem Roman von Jane Austen, den Logan mir gegeben hatte und begann zu lesen.
∞
Gähnend trottete ich hinter Poppy zur ersten Stunde her. Ich hatte die halbe Nacht mit Lesen verbracht und der Schlafmangel forderte nun seinen Tribut.
»Sag mal, warst du heute Nacht auf irgendeiner geheimen Party und hast mir nicht Bescheid gesagt oder warum siehst du aus, als hättest du vor der Schule einen durchgezogen?«, Poppy musterte mich über ihre Schulter hinweg. Die grauen Haare hingen ihr heute in geringelten Löckchen über die Schulter.
»Nein. Es war nur ein Lesemarathon«, warf ich ein und unterdrückte ein erneutes Gähnen.
»Wie langweilig«, brummte Poppy und wandte sich wieder nach vorn. Doch dann schien ihr offenbar etwas eingefallen zu sein, denn sie drehte sich wieder grinsend zu mir um.
»Und ich dachte schon du hättest letzten Samstag noch einen superheißen Typen kennen gelernt und die ganze Nacht wilden Sex gehabt.«
Sofort schoss mir das Blut in die Wangen und meine Hände verkrampften sich. Poppy hatte mich noch nicht darauf angesprochen, wo ich denn nun letzte Samstagnacht verbracht hatte. Ich wusste jedoch, dass mir diese Inquisition noch bevorstand und ich besaß keinen Schimmer, wie viel ich ihr erzählen sollte. Ob ich ihr überhaupt etwas von dieser merkwürdigen Nacht erzählen sollte.
Ich spürte noch immer Poppys wachsamen Blick auf mir, doch Gott sei Dank hakte sie nicht weiter nach, was wohl daran lag, das Timmy gerade zu uns stieß.
»Salut mes amis«, begrüßte er uns gut gelaunt und erkundigte sich sogleich nach unserem Wochenende. Während Poppy von ihrer Wette mit Lukas berichtete, schlenderten wir gemeinsam durch die Flure und ich betete inständig, dass das Gesprächsthema nicht schon wieder auf mein mysteriöses Verschwinden von Samstagnacht fallen würde.
Wir bogen gerade um die Ecke, als ich mit jemandem zusammenstieß. Ich blickte auf, direkt in Logans eisblaue Augen. Mein Herz schlug sofort schneller und sein plötzlicher Anblick raubte mir den Atem. Diese Art von Aufeinandertreffen schien für uns wohl zur Gewohnheit zu werden.
»Ähm… Hi«, kam es über meine Lippen und im nächsten Moment fühlte ich mich wie der größte Idiot auf Erden. Hatte ich meinen Lehrer wirklich gerade mit einem Hi begrüßt? Noch bescheuerter konnte man sich wohl wirklich nicht verhalten. Doch Logan dagegen schien sich über meine Reaktion zu amüsieren, denn er verzog seine Lippen zu diesem schiefen Lächeln, das mein Herz sofort höher schlagen ließ.
Im Augenwinkel sah ich, dass Poppy und Timmy stehen blieben und uns interessiert beobachteten.
»Guten Morgen, Drea«, seine Stimme klang kraftvoll und ruhig. Natürlich schien ihn nicht das Geringste aus der Bahn zu werfen. Das Grinsen auf seinem Gesicht schwand und machte einem freundlichen Lächeln Platz, mit dem er nun auch Poppy und Timmy grüßte.
Höflich wie er war, trat er ein Stück zur Seite, um mich vorbei zu lassen. Beschämt darüber, dass mich seine Anwesenheit mal wieder derart aus der Fassung brachte, senkte ich den Blick und ging mit einem gemurmelten Dankeschön an ihm vorbei. Mein Puls schlug auf Hochtouren und meine Wangen hatten wohl sehr wahrscheinlich die Farbe einer Tomate.
Es machte mich rasend, dass ich meine Gefühle in seiner Nähe nicht unter Kontrolle hatte. Erst recht verärgerte es mich, dass ich überhaupt etwas in seiner Gegenwart empfand! Ich verstand diese Empfindungen ja nicht einmal. Wie sollte ich dann mit ihnen umgehen?
Genervt schüttelte ich diese Gedanken ab und konzentrierte mich auf Poppy und Timmy, die mich nun aufmerksam musterten. Poppy fand als Erste ihre Sprache wieder.
»Timmy?«, ohne ihn anzusehen, streckte sie auffordernd ihre Hand aus. Ihr Gesicht drückte pure Schadenfreude aus.
»Verdammt«, Timmy verzog grimmig das Gesicht, griff in seine Hosentasche und zog einen Dollarschein heraus. Ein triumphierender Ausdruck breitete sich auf Poppys Gesicht aus.
»Hier, du hast gewonnen. Sie steht tatsächlich auf ihn«, Timmy sah traurig seinem Geld hinterher, während Poppy es sich mit einem diabolischen Grinsen einsteckte.
»Du wolltest mir ja nicht glauben, du bist selbst schuld.«
»Und du bist ein kleiner Teufel, Poppy. Weißt du das?«, Timmy verschränkte die Arme vor der Brust und seine Gesichtszüge wurden noch dunkler.
»Ich bin allwissend, Timmy«, Poppy genoss sichtlich ihren Sieg. »Merk dir das.«
Timmy wollte gerade zur Widerrede ansetzen, als ich registrierte, was sich soeben zwischen den beiden abgespielt hatte.
»Moment mal,« warf ich entrüstet ein. »Habt ihr etwa eine Wette über mich abgeschlossen?«, mir fiel die Kinnlade herunter und entsetzt starrte ich die beiden an, die mich offenbar erst jetzt zur Kenntnis nahmen. Poppy grinste böse. Timmy dagegen schien zumindest ein bisschen Reue zu zeigen, denn er blickte schuldbewusst zur Seite und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
»Jetzt hab dich mal nicht so. Du weißt, dass wir ständig irgendwelche Wetten abschließen«, verteidigte sich Poppy und schulterte ihren Rucksack, als das Klingeln zur ersten Stunde ertönte. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass meine Freunde eine Wette darüber abgeschlossen hatten, ob ich auf meinen Lehrer stand.
Eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen. Wie Poppy bereits sagte, schlossen sie und Timmy schlossen andauernd und über alles Mögliche irgendwelche absurden Wetten ab. Doch dass es dieses Mal um mich ging, war definitiv zu viel des Guten. Auch noch um dieses eine Thema, das mich selbst zutiefst verwirrte.
»Nur fürs Protokoll: Ich stehe nicht auf meinen Lehrer. Und ihr werdet keine weiteren Wetten mehr über mich abschließen, okay?« Ich funkelte die beiden wütend an. Für einige Augenblicke lang starrten sie mich einfach nur stumm an, als würde ich chinesisch sprechen.
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