Von diesem Tag an bemerkte ich den alten Golf immer öfter. War ich vielleicht unbemerkt sensibel dafür, weil ich den Fahrer ja nun kannte? War mir das Auto vorher einfach nur nicht aufgefallen? Es schien merkwürdig, dass jetzt, wo das Feld doch abgeerntet war, Zwille so viel am Feld zu sehen war, wo wir bis dahin nie jemanden bemerkten. Doch mit den üblichen Tätigkeiten eines Landwirtes kannten wir uns bis dahin nicht richtig aus und waren uns sicher, es würde alles seine Gründe haben und uns zudem auch nichts angehen. Scheinbar zufällig fuhr Zwille fast täglich die Straße vor unserem Haus mehrfach auf und ab. Wenn ich genauer darauf achtete und hinüber sah, sah ich, wie er zu mir schaute und freundlich grüßte. Selbstverständlich grüßte ich zurück, das gehört sich schließlich so. Doch plötzlich wendete der Wagen ohne jegliche Verzögerung und kam zügig zu mir herangefahren. Egal wo ich mich auf unserem Grundstück auch befand, Zwille stellte sein Auto unmittelbar auf der Straße oder direkt vor unserer Einfahrt ab. Er stieg flott aus dem Auto aus und kam zu mir. Es verblüffte mich, aber ich dachte mir, „das wird hier auf dem Land halt wohl so sein“, dass man sich einfach für einen Plausch die Zeit nimmt und „breit macht“. Er verwickelte mich in unverfängliche Gespräche, fragte höflich nach, ob wir mit dem Stroh zufrieden seien und begann unaufgefordert über belanglose Dinge zu sprechen. Er erzählte viel über das Dorf, die Bewohner, dass früher auf den Feldern noch Wirtschaft mit Flugzeugen getätigt wurde und dass seine Mutter noch im Dorf wohne. Er selbst wohnte immerhin gut 25 Kilometer entfernt, also quasi drei Dörfer weiter, würde aber immer wieder seine Mutter im Dorf besuchen. Zwischen den Zeilen der belanglos wirkenden Gespräche sagte er plötzlich so ganz nebenbei, dass ich mich nicht erschrecken solle, wenn er morgen mit dem Traktor käme, um die Wiese vor unserem Haus zu scheiben. Das bedeutete, er würde sie umgraben. Er würde dort einen Acker vorbereiten. Auf meiner Stirn runzelten sich Falten. Ich konnte kaum glauben, was er da sagte. Wie? Die Wiese vor unserem Haus? Das ist unsere Wiese, die soll bitte Wiese bleiben, die könne er doch nicht einfach umgraben! Er zückte rasch einen Straßen-Atlas-Plan hervor, eine veraltete Straßenkarte, die fast keinen Zusammenhang mehr an den zerfledderten Blättern fand. Er wollte mir völlig überzeugt weismachen, dass ihm das Stück Land vor unserem Haus gehören würde und deutete mit den Fingern ständig auf die verschmutzte Straßenkarte. Ich war über die Art und Weise ein wenig amüsiert, aber auch etwas empört über seine freche Idee, blieb aber freundlich und verteidigte meinen Standpunkt, dass wir diese besagte Fläche mit dem Haus zusammen gekauft hatten und alles notariell festgeschrieben war. Es müsse sich also um einen Irrtum handeln, wenn er meinte, es sei seine Fläche. Ich sagte ihm, dass wir das auch notariell belegen können, wenn er das möchte. Wir hätten sogar eine Katasterkarte, denn der Straßenplan könne ja nur wenig über Eigentumsverhältnisse aussagen. Er winkte plötzlich ab und lenkte ein. Vielleicht wäre das doch ein Irrtum. Er würde das nochmal prüfen, bevor er die Fläche umgräbt. Ich war wirklich sprachlos über diesen Auftritt und zwischen amüsiert und verunsichert hin und her gerissen. Er würde es nochmal prüfen, bevor er die Wiese umgräbt? Er war immer noch nicht davon abgerückt, die Wiese umgraben zu wollen? Wir zogen dann recht bald einen Zaun um die besagte Fläche, die zwischen dem Haus und der Straße lag. Die Fläche misst immerhin knapp 2.500 qm und sollte als Weide für unsere Tiere dienen und nicht zum kostenlosen Acker für Zwille werden.
Solche Ausflüge in die Kopfwelt von Zwille blieben mir, in immer kürzeren Abständen, auch weiterhin nicht erspart. Komisches Landvolk, hätte man oft denken können, aber ich wurde höflich erzogen, und einfach auf ein Gespräch nicht zu reagieren, nicht zuzuhören, das wäre ja unangebracht, oder? So benahm ich mich halt auch wohlerzogen und lauschte den phantasievollen Geschichten von Zwille, auch wenn ich eigentlich Besseres zu tun gehabt hätte. Er berichtete davon, dass er Frührentner sei, weil er einen Herzinfarkt auf dem Feld gehabt hätte. Ihm waren einige Stands und Bypässe gelegt worden. So erschreckend sich sein Schicksal auch anhörte, legte sich sogleich ein grauseliges Gefühl in meinem Bauch nieder, was nichts mit Mitleid zu tun hatte. Rentner? Oh Schreck! Viel Zeit! In meinem Kopf pochte es gleich hämmernd, oh nein, bitte nicht. Egal, ich bin ein taffes „Berliner Girly“ und würde mit meiner Lebenserfahrung an seltsamen Gestalten auch dieser Gestalt schon gekonnt und höflich auszuweichen wissen, wenn es doch zu nervig würde. Das dachte ich mir so. Doch auf dem Land ist es halt anders. Zwille kam nun täglich und war mit seiner einfachen Art auch immer irgendwie sympathisch, zwar etwas nervig und aufdringlich, aber doch irgendwie auch nett. Frederik und ich fragten uns immer wieder, warum er so nett zu uns sei und dachten beschwichtigend, das ist wohl hier auf dem Land einfach so. Zwille brachte uns häufig frisches Obst oder Gemüse aus seinem Garten mit. Er erklärte, er habe viel zu viel angebaut und seine Frau könne das ganze Zeug nicht mehr sehen. Wenn ich nicht zu Hause war, hing er es irgendwann sogar körbeweise an den Zaun oder stellte es vor die Tür. Wenn ich beiläufig in den zahlreichen Gesprächen erwähnte, dass ich Himbeeren besonders gerne mag, hingen am nächsten Tag Himbeeren am Zaun und sogar einige Himbeerpflanzen für den Garten dazu. Wenn Frederik am Sonntag eine Bohrmaschine brauchte, so brachte Zwille uns diese noch am gleichen Tag vorbei und zeigte sich immer hilfsbereit. Wir waren überwältigt und fühlten uns schon schlecht, weil wir seine nette Art so oft hinterfragten und so viel Hilfsbereitschaft nicht kannten.
Nach und nach lernten wir dann auch den einen oder anderen Nachbarn im Dorf über den Gartenzaun hinweg kennen. So kam eines Tages ein Hinzugezogener, wie wir es waren, mit seiner Ponykutsche, die von zwei schwarzbraunen Ponys gezogen wurde, vorbeigefahren, und wir kamen über unsere Tiere mit ihm ins Gespräch. Über den neuen Kontakt freuten wir uns natürlich, war dieser Kontakt doch anders als der mit Zwille. Mit diesem Nachbarn kamen durchaus interessantere Gespräche zustande, hatte man doch immerhin durch die Tiere ein gemeinsames Thema. Zwille konnte mit Tieren nicht so gut und ich hatte bei ihm wenig zu erzählen. Es folgten wechselseitige Einladungen zu gemeinsamen Grillabenden. Der Kutscher war ehemals ein Lehrer, der aufgrund von Rückenproblemen nun in Frühpension lebte. Dass er mit seinen Rückenproblemen allerdings mit der Kutsche über die holprigen Felder hetzte wunderte mich schon, wie das ging. Er kaufte sich im Dorf ein altes Haus, in dem er mit seiner Frau lebte, und erfüllte sich so seinen Traum von zwei Kutschponys am Haus. Frühpension? Wo sind wir hier hingezogen? Sind hier alle in vorzeitiger Rente unterwegs? Es stellte sich heraus, dass auch der Kutscher Zwille kannte. Dies war unter anderem dem Umstand geschuldet, dass Zwilles Mutter gleich zwei Häuser weiter neben dem Kutscher wohnte. Es war spät am Abend und vielleicht war schon ein Bier mehr oder weniger dabei, als der Kutscher etwas angepiekst meinte, dass wir uns bloß von Zwille fernhalten sollten. „Der ist nicht ganz sauber“, meinte er. „Passt bei dem bloß auf, der ist nicht ganz normal!“ Der Kutscher berichtete von einem Vorfall, bei dem Zwille wohl über den Zaun des Kutschers gestiegen sei und ungefragt eine Leiter vom Kutscher „geborgt“ habe.
Wir lachten über die Geschichte der „geborgten“ Leiter und wussten nicht ganz einzuordnen, ob es am Bierchen lag oder nicht. Es war ein heiterer Abend, doch diese Geschichte von Zwille begleitete uns ungewollt mit nach Hause. Den mahnenden Rat hatten wir noch lange im Ohr. „Lasst euch nicht mit dem ein!“ Doch was tun, wenn Zwille immer wieder zu uns kommt? Zudem ist Zwille zu uns doch immer nur nett. Vielleicht war es einfach ein Streit zwischen zwei alten, gelangweilten Frührentnern, die einfach zu viel Zeit hatten und zu unterschiedliche Lebensweisen? Uns war jedenfalls klar, dass da zwei unterschiedliche Welten aufeinander prallten.
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