Ist man selbstständig tätig, dann landet man meist im völligen Ruin. Wie kann also jemand, der nicht in der Haut des Opfers steckt, darüber entscheiden, welche Kriterien die Lebensgestaltung „schwerwiegend“ beeinträchtigen? Muss das Opfer erst unzumutbare Hindernisse und Lebenseinschränkungen ertragen, bevor die Justiz überhaupt bereit ist, etwas zu unternehmen? Mittlerweile wurde dieser Paragraph geändert. Nun heißt es, dass die Taten nur noch ausreichen müssen, um eine Beeinträchtigung herbeizuführen. Doch ist es dadurch weniger willkürlich geworden? In der Realität dauert es lange, bis einem tatsächlich geholfen wird. Es ist nicht nur ein mühsamer Kampf gegen den Täter, sondern vor allem ein mühseliger Kampf gegen die schwergängige Justiz. Die Opfer werden leider häufig nicht ernst genommen, dafür aber oft belächelt, meist sogar unverrichteter Dinge fortgeschickt, wenn sie Hilfe bei der Polizei suchen. Ca. 80% der Opfer sind Frauen, doch Stalking kann Menschen jeden Geschlechts, jeder Altersgruppe, jeder Gesinnung und jeder Gesellschaftsschicht treffen. Ist ein Mann von Stalking betroffen, muss er sich zudem noch hämischen Sprüchen stellen: „Nimm sie doch, sie will es doch auch. Ist doch klasse, die ist willig. Ist doch super, wenn dir die Frauen hinterherlaufen…“ Doch aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass manche Sprüche von Frauen nicht sinnvoller oder feinfühliger ausfallen: „Ach, was beschwerst du dich denn? Was würde ich mich freuen, wenn ein Mann mal SO für mich schwärmen würde!“. Gerne hätte ich dieser Dame sofort meinen Stalker „vermacht“, wenn sie ihn sich doch so sehr wünscht. Auch diese Sprüche zeigen mir immer wieder deutlich, dass vielen Menschen nicht ansatzweise bewusst ist, was Stalking tatsächlich bedeutet.
Erschreckende Zahlen zu Stalking
Laut einer Statistik der Polizei aus dem Jahr 2018 sinkt die Zahl der in Deutschland angezeigten Stalking-Fälle seit 2008 angeblich. Waren es im Jahr 2008 noch über 29.273 Fälle, die zur Anzeige gebracht wurden, so sank ihre Zahl bis 2018 auf 18.960 Fälle. Laut einer Veröffentlichung des Bundeskriminalamtes hingegen wurden im Jahr 2008 31.549 Fälle erfasst. Diese unterschiedlichen Statistiken zeigen mir, dass selbst die Polizei keine genauen Angaben zu kennen scheint. Doch ganz gleich, welcher Statistik man nun Glauben schenken möchte, spiegeln diese Zahlen immer noch nicht die „tatsächlichen“ Fälle, also die Dunkelziffer, wider. In diesen Statistiken wurden lediglich die „aufgenommenen“ Fälle erhoben. Doch wie viele Fälle von der Polizei erst gar nicht zur Anzeige gebracht wurden, selbst wenn die Opfer dies versuchten, wird in keiner polizeilichen Statistik erfasst. Wie viele Opfer, mich eingeschlossen, die eine Anzeige bei der Polizei machen möchten, werden nicht ernst genommen und fortgeschickt? Diese Dunkelziffer dürfte gar nicht existieren, doch es gibt sie! Experten schätzen die Zahl der Opfer dreimal so hoch ein. Dies würde bedeuten, dass es schätzungsweise zwischen 60.000 und 90.000 Stalking-Fälle pro Jahr gäbe. Trotz entsprechender Gesetzte wird nur 1% der erfassten Fälle strafrechtlich verfolgt und schließlich verurteilt. 99% der Täter kommen immer noch ungestraft davon, weil die Beweislage so schwierig ist und die Opfer immer noch zu viel Gegenwehr seitens der Justiz erfahren müssen. Die Opfer werden im Stich gelassen, belächelt, ja sogar verspottet. Sie werden sich selbst und vor allem dem Stalker überlassen. Viele haben schlichtweg keine Kraft und auch keinen Mut mehr, sich jemandem anzuvertrauen. Sie zweifeln an sich, hinterfragen ihre eigene Wahrnehmung und stellen sich selbst in Frage, anstatt für ihr Recht zu kämpfen und es einzufordern.
Nun möchte ich zunächst darüber berichten, wie es mir in meinem Fall erging, um anschließend auf ausführliche Informationen zum Thema Stalking mit entsprechenden Beispielen einzugehen.
Heute weiß ich nicht mehr, wie oft ich nach den ersten Worten für dieses Buch rang, wie lange ich den Auftakt dafür vor mir herschob, wie oft ich mich dabei ertappte, zunächst Zeile für Zeile zu schreiben, nur um diese einen Tag später wieder zu verwerfen. Ich weiß, dass ich mich lange davor drückte, mich mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen, mir die Geschehnisse der letzten zehn Jahre, welche mein Leben unkontrollierbar beeinflusst und geprägt haben, noch einmal vor Augen zu führen. Zu oft schwor ich mir, dass ich darüber „später mal“ ein Buch schreiben werde. Doch wie oft sagt man sich, „das mache ich mal“, tut es dann aber doch nicht? Mir fehlte einfach der Mut, in jeder Hinsicht. Wird es überhaupt jemanden interessieren, was mir widerfahren ist? Zu lange hatte sich niemand dafür interessiert, meine Hilferufe gehört oder mir zuhören wollen. Genau das machte es mir so schwer, den Anfang für dieses Buch zu finden: die Angst, dass es niemanden interessiert und die Angst, sich alles nochmal vor Augen zu führen. Diese Angst war auch nicht ganz unbegründet, denn verarbeitet hatte ich von dem Erlebten bislang kaum etwas. Es blieb ja auch nie wirklich Zeit dazu. Während des Schreibens brauchte ich oft Pausen. Wenn die Situationen durch meinen Kopf über die Finger in die Tastatur flossen, holte mich auch das Gefühl von damals wieder ein. Ich saß oft mit kaltem Schweiß unter den Armen und am Rücken auf dem Stuhl, begann zu zittern, zu frieren und bekam Bauch- und Kopfschmerzen. Wie froh war ich, dass ich, anders als damals, nun aus diesen Situationen ausbrechen konnte, wenn es unerträglich wurde. Während des Schreibens regelten oft meine Hunde für mich die Pausenintervalle, holten mich ins Hier und Jetzt zurück und forderten meine ganze Aufmerksamkeit. Ein Spaziergang an der frischen Luft brachte einen klaren Kopf und Luft in die beklemmten Lungen. Meinen Hunden habe ich viel zu verdanken, wäre ich ohne sie längst nicht mehr da, um diese Zeilen überhaupt schreiben zu können. Nun mussten nur noch die Ausreden aufhören, das Buch noch nicht in Angriff zu nehmen. Es war an der Zeit, zu beginnen, um loszulassen, zu verarbeiten, die wichtigen Informationen mit anderen zu teilen. Denn entgegen meiner Befürchtungen gibt es durchaus Menschen, die sich für das Geschehene interessieren. Betroffenen kann ich mit meinen Zeilen vielleicht sogar Mut und Kraft geben und somit helfen. Den richtigen Zeitpunkt zu suchen oder ein Projekt immer wieder auf später zu verschieben, ist nur eine Ausrede der Angst. Der richtige Zeitpunkt ist genau jetzt! Jetzt sollten wir das tun, was wir uns vorgenommen haben, denn was nach dem Jetzt kommt, können wir nicht vorhersehen. Wir können nicht wissen, ob es ein Später überhaupt geben wird. So sitze ich nun endlich an meinem Buch und fülle die ersten Zeilen. Dass mir die literarische Gewandtheit fehlt, möge man mir dabei bitte nachsehen. Es ist mein erstes Buch und kein Roman. Es geht um ein tatsächliches Verbrechen, welches in meinem Leben genau so stattfand. Ich gebe hier tiefe Einblicke in mein privates Leben, meine Gefühle, Ängste und in mein tiefstes Innerstes mitsamt der Verzweiflung und den Einschränkungen, die mir in diesem unerträglichen Leid aufgebürdet wurden.
Mein Buch ist ein Buch über Stalking. Was bedeutet Stalking, wie verändert es das eigene Leben und was richtet es mit der Gesundheit eines Menschen an? Stalking verändert die eigene Lebenseinstellung, die körperliche Verfassung, das Lebensumfeld und die Lebensansichten. Es wirkt sich auf die eigenen Verhaltensweisen, den Wohnort und die Arbeitsstelle aus. Stalking bedeutet Verluste in alle Richtungen, Verluste für das Opfer. Doch muss das so sein und so bleiben? Meine Antwort darauf lautet „Nein“. Mit meiner Geschichte möchte ich zeigen, dass es an einem selbst liegt: Bleibt man das Opfer oder nutzt man alles Übel, um die Situation ins Gegenteil zu kehren? Wenn nur genügend Steine in den Weg gelegt werden, ergibt sich daraus bereits ein neuer Weg. Oder man baut aus diesen Steinen etwas Schönes am Rande. Kämpfen ist ein guter erster Schritt in die richtige Richtung. Wirf den Stein doch einfach zurück! So, wie man im Judo die Kraft des Gegners ausnutzt, um ihn zu Fall zu bringen, kann man auch sein Leben danach ausrichten, nicht in der Opferrolle unterzugehen.
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