„Oh", entfuhr mir ein leiser Seufzer, als eines der Wesen eine Orchidee hinauf in die Baumkrone trug. Während ich mich noch darüber wunderte, wurde der Wald wieder lichter.
„Wer sind diese Wesen, die hier so selbstlos arbeiten?"
Meine Mutter folgte meinem Blick. Doch mein Vater antwortete: „Ha, auf der Erde dachte man immer, das geht alles von alleine. Aber die Erde war verflucht. Keiner hatte richtig Lust, sich fortwährend zu kümmern. Jeder dachte nur an sich. Hier ist das anders. Ganz anders. Nicht mehr Geld und Macht stehen im Vordergrund, sondern das Streben …„
„Schau doch mal", unterbrach meine Mutter seinen Redefluss. Ihre Hand beschrieb einen etwas theatralischen Bogen und zeigte auf die Pflanzen nahe des Weges.
Die verschiedenen Grüntöne der Sträucher am Wegesrand ließen mich verwundert innehalten.
„Was für eine Vielfalt", hauchte ich.
Inbrünstig sog ich das Schauspiel in mich auf. Verzückt betrachtete ich die Blumen. Sie wogten im leichten Wind. Ihre Blüten leuchteten. Ja selbst die Farben ihre Stängel schienen mir intensiver zu sein, als alles, was ich bisher sah. Dazu zwitscherten Vögel in den harmonischsten Gesängen. Erneut vielen mir die kleinen Wesen rund um die Pflanzen auf. Solche hatte ich hier auch noch nicht gesehen. Mein Blick schweifte umher. Ich drehte mich zur Seite und schrak zusammen. Es gab ja auch welche, die größer waren als ich! Weitaus Größer! Waren es Tiere? Ich konnte sie nicht einordnen. Es waren Gestalten jedweder Art, aber alle freundlich und einander wohlgesonnen. Sie begrüßten mich mit einem leichten Kopfnicken. Das sah bei den ganz kleinen Wesen putzig aus. Bei denen, die größer waren als ich, wirkte es eher bedrohlich. Ich wusste, meine Mutter würde wieder ausweichend antworten, wenn ich jetzt nachfragte. Ich musste schnellstmöglich mit meinem Vater sprechen. Allein. Er stand nicht unter diesem unseligen Zwang, alles von mir fernhalten zu wollen. Ich lächelte still. Beide meinten es nur gut.
„Kommst Du?", riss mich meine Großmutter aus meinen Gedanken und hielt mir die Hand hin. Mein Blick streifte meine Tante.
„Ja, gleich."
Ich breitete die Arme aus.
„Tantchen. Entschuldige, ich glaube, wir haben uns noch nicht begrüßt."
Sie nickte freudig. „Ja, Kleines. Da hast du recht."
Ihre Hand strich mir übers Haar. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie aussah, so wie ich sie in Erinnerung hatte. Wie alt musste sie schon sein? Oder meine Eltern?
‚Altert man nicht mehr?‘, fragte ich mich, stellte den Gedanken aber sofort zurück. Meine Tante lächelte plötzlich, dann lachte sie laut auf. Es war ein fröhliches, ja fast ein belustigtes Lachen.
„Du fragst dich, ob wir nicht älter werden. Wir werden nicht älter. Wir sehen einander so, wie wir uns in Erinnerung behalten."
„Ja. Ich musste nur erst einmal staunen über …", mir fiel kein Wort ein. Meine Hand beschrieb in einem weiten Bogen, was ich durch Worte nicht auszudrücken vermochte.
Sie nickte. Liebevoll ergriff sie meine Hand. Sie schwieg. Jedes Wort hätte dieses Gefühl, dieses wundervolle Gefühl der Geborgenheit, die ich trotz meiner Angst um José verspürte, zunichtegemacht. Wir schauten uns an. Ruhig blickten ihre Augen in die meinen, so als erforschte sie mich. Doch ich wollte nicht erforscht werden. Kurzerhand hakte ich sie und diesmal meine Oma ein.
Nach kurzem Weg sahen wir ein kleines Dorf in der Ferne. Leise drangen Geräusche herüber. Hammerschläge, die voller Emsigkeit ausgeführt wurden. Kleine Stakkatos in rhythmischem Abstand. Mit jedem Schritt, den wir näherkamen verringerten sich die Anzahl Bäume und Sträucher und wichen vollen Feldern.
Auch hier wuselten geschäftig viele, viele Naturwesen herum. Es waren so viele und so Unterschiedliche, dass ich gar nicht erst begann zu fragen, wie sie hießen oder worin sie sich auszeichneten.
Es war Juni und an der Zeit, in den Kartoffelfeldern erneut Unkraut zu jäten. Da waren diejenigen, die den Boden auflockerten und diejenigen, die das Unkraut entfernten. Das Geschehen verblüffte mich. Aber ich fühlte eine Freude in mir, das alles Sehen zu dürfen, diese Emsigkeit mitzuerleben, dass ich innerlich juchzte. Ehrlich gesagt, war es mehr als einfach nur Schauen. Ich fühlte mich verbunden mit allem: Mit der Natur, mit den Glücksgefühlen all derjenigen, die ich erspähte und mit einer Kraft, die ich bei genauerem Nachdenken insgeheim als Lebenskraft betitelte. Vielleicht kam mir dieses Wort auch in den Sinn, weil just in diesem Augenblick eine Glocke wie von einem entfernten Kirchturm leise läutete. „Für mich", dachte ich unwillkürlich. Es passte ins Bild und ich versuchte es in mich aufzunehmen und nie wieder loszulassen. Es war mein Wunsch, es mir als Erinnerung aufzubewahren. Ich blieb stehen und kniff ich mir in meinen kleinen Finger. Das hatte ich schon zu Lebzeiten so getan. Schöne Momente speicherte ich mir, schon seit ich ein kleines Kind war, immer durch einen kleinen Kniff in den Finger. Wenn es mir schlecht ging, konnte ich die schönsten Erinnerungen abrufen. Ungewollt lächelte ich. José hatte meine Marotte, wie er mein Verhalten nannte, immer veralbert.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.