3. Dimanco (Sonntag) - Ankunft
Die Sonne warf ihre Strahlen auf dieses Fleckchen, an dem ich stand. Aus Gewohnheit grub ich meine Zehen tief in den feinen Sand hinein. Mein Herz pumpte vor Freude, mein Blut puckerte, ich spürte es überall, so kribbelte es in mir. Ich konnte nicht erwarten, was jetzt wohl geschehen würde. Und jetzt, jetzt endlich wurde es hell um mich herum. Meinen Körper spürte ich nicht mehr. Er wurde leicht. Die Berührung mit José war verloren. Ich aber genoss diesen Augenblick, diesen herrlichen Moment des Lebens.
Vor mir öffnete sich eine neue Welt. Ich fühlte den Sand in einer Feinheit durch meine Zehen rieseln, die unbeschreiblich war. Völlig verwundert beobachtete ich das Schauspiel. Sandkorn für Sandkorn schlängelte sich durch meine Zehen und ließ diese noch tiefer in den warmen Boden hinein. Als ich einatmete, durchströmte mich eine Freiheit und Leichtigkeit, wie ich sie noch nie erfahren hatte. Tief zog ich die Luft in meine Lungen und genoss diese Frische. Langsam hob ich den Kopf und wagte einen Blick in mein neues Umfeld. Der Blick war weitläufig. Mich umgab pure Natur. Bunt, schillernd. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Ein Glücksgefühl durchströmte mich in einer warmen Welle.
Ich stand auf einer großen Lichtung. Vor mir lag ein Tal mit tiefgrünen Wiesen, die bis an den Horizont reichten. Links und rechts waren sie von blühenden Sträuchern und dahinterliegend von reichhaltigen Wäldern in den tollsten Grüntönen begrenzt. Über der Wiese lag ein feiner Nebel, der schnell in einen strahlend blauen Himmel überging.
Das alles nahm mich sofort gefangen. Dieser Ausblick mit all den warmen, fröhlichen und satten Farben war unbeschreiblich! Egal wohin ich schaute, zum Himmel, zum Boden oder in die Natur: Alles erstrahlte in einem so ausgefüllten Farbton, dass ich mich gar nicht sattsehen konnte! Dabei blendete weder die Sonne, noch die Vielfalt um mich herum. Ich konnte genießen. Einfach nur genießen!
Es gab keinen Gedanken an dies oder das. Kein Bangen um irgendwas.
Erneut sog ich die Luft ein. Sie fühlte sich an wie nach einem warmen Sommerregen. Sie war so rein, ja schien tatsächlich unberührt, dass ich nicht anders konnte, als einen Augenblick innezuhalten, die Augen zu schließen und zu staunen.
„Aaaah, tut das gut", seufzte ich endlich.
Im tiefsten Innern glücklich, öffnete ich die Augen. Um mich herum nahm ich schemenhaft Gestalten wahr. Sie drängten sich nicht auf, sondern warteten. Erst als ich innerlich bereit war sie in mein Leben zu lassen, näherten sie sich und wurden mit jedem Schritt, den sie näherkamen farbenfroher.
Es waren viele, die mich in Empfang nahmen. Eine große Anzahl kannte ich nicht einmal. Vermutlich waren wir uns im Erdenleben begegnet und hatten einander geholfen, so wie man sich halt mal hilft oder im Vorbeigehen grüßt. In diesem ersten Augenblick hatte ich nur Augen für meine Eltern, für Oma, Opa, Freunde und Freundinnen. Fröhlich umarmten wir einander. Alle hatten ein nettes Wort für mich oder stellten sich vor: „Hallo! Wie schön dich zu sehen!" – „Wie lange ist das her!" – „Ich habe immer auf dich aufgepasst, für dich gehofft und gebetet!" – „Einfach nur schön, dass du jetzt auch da bist."
Die freudigen Bekundungen stürmten auf mich ein, so dass ich gar nicht antworten konnte. Sie alle nahmen mich in den Arm, drückten mich und schauten mir durchdringend in die Augen. Mein Gott, selbst diese Blickkontakte waren viel intensiver als alles mir bisher bekannten. Vereinzelt klopften mir mittlerweile manche nur noch auf die Schulter oder gaben mir die Hand. Wir fanden lediglich für kurze Gesprächshäppchen Zeit.
„Sie sind damals für mich eingetreten, wissen sie noch?"
„Nein, ehrlich gesagt, … oh warten sie …, doch. Doch ich erinnere mich!" Verwundert erkannte ich, dass ein kurzes Innehalten und mich Besinnen mir auch die Erinnerung an längst vergessene Kleinigkeiten lieferte. Dies also war es für mich: mein eigener schwarz-weißer Film mit realen Personen. An manchen Stellen mit einem Glücksgefühl, an anderen Momenten mit dem schmerzenden Erkennen, was ich einem Mitmenschen oder Lebewesen angetan hatte. Besonders dann tat mir das Schulterklopfen wohl, denn ich fühlte: Ich hatte längst Vergebung erfahren.
„Mir hast du deinen Lebtag nicht verziehen", ertönte eine tiefe Stimme. Sie war mir bekannt. Zu bekannt, als dass ich wirkliche Freude empfinden konnte. Wohl auch aus diesem Grund fühlte ich, dass ich eher ein Bild des Schreckens abgeben musste. Erstarrt, ja verstört stand ich vor meinem ehemaligen Lehrer, der mich seinerzeit mit schnell hintereinander folgenden Fragen durch meine Abschlussprüfung in die Fünf gepeitscht hatte. Sofort kam die Erinnerung wieder hoch, wie ich gedemütigt vor dem Prüfungskomitee stand.
„Sie wussten genau, wo meine Schwächen lagen!"
„Ja."
„Das Referat, das ich gehalten hatte, haben sie einfach nicht bewertet. Sie sagten: Würden sie eine Note geben, wäre es für die Ausarbeitung eine Eins! Wie sagten Sie noch?", aufbrausend äffte ich ihn nach: „Aber ich gebe diesmal keine Note."
Meiner Kehle entrann sich ein Schluchzer, über seine Gemeinheit: „Wissen sie noch?"
„Ja."
„Sie haben sogar die Nachprüfung verhindert!"
„Ja."
Beide starrten wir uns an. Ich spürte, wie er mit sich rang, aber er war überzeugt, damals das Richtige getan zu haben. Mein Leben hatte eine andere Wendung genommen. Die Wendung, das wurde mir jetzt klar, die mein Schöpfer mir als Drehbuch vorgegeben hatte. Mit Inhalt und mit Leben hatte ich das Buch gefüllt, das war klar. War er nur Mittel zum Zweck gewesen? Ich spürte sein Dilemma und er spürte meines. Wir umarmten uns. Es war gut. Mit einem mal war alles gut.
Die anderen gaben uns Zeit, auch wenn wir nichts weiter aussprachen und doch wollte keiner von uns beiden die Anderen warten lassen. Er nickte mir zu und ich puffte ihn aus einer Eingebung heraus fast freundschaftlich in die Seite, bevor ich weitere Hände schüttelte oder wieder liebevoll auf viele Schultern klopfte, so wie sie auf meine klopften. Zu überwältigt war das Wiedersehen und doch, etwas fehlte! Ich sah mich suchend um.
„Wo ist José?", entfuhr es mir.
„Dein Freund?", flüsterte eine Stimme hinter mir.
„Ja! Wo ist José?" Meine Stimme überschlug sich leicht.
Etwas stimmte nicht.
„Nun komm doch erst einmal an."
Ich drehte mich um.
Aus dem bärtigen Gesicht meines alten Schulfreundes strahlten mir seine blauen Augen entgegen.
„Frank!"
Seine Lachfalten um die Augen verstärkten sich noch. Wir umarmten uns. Es war wie damals, als er in mich verschossen war. Ich löste die Umarmung vorsichtig, aber bestimmt. Wir standen uns gegenüber. Er hielt mich mit seinen fleischigen Händen an den Schultern.
„Karina, wie lange ist das her!"
Mir fiel auf, dass sich seine Lachfalten im Laufe der Zeit tief eingegraben hatten.
„Mensch Frank. Was bist Du braungebrannt. Was ist nur aus dem alten Stubenhocker geworden?"
„Stubenhocker?", gluckste er. „Wir waren doch ständig unterwegs! Wir haben doch das Leben genossen und alle Fünfe gerade sein lassen!"
Ich nickte. „War ja auch ironisch gemeint", murmelte ich und dachte: „Etwas immer noch der Alte?"
Insgeheim befürchtete ich in diesem Augenblick, in der Hölle gelandet zu sein. Frank hatte immer Dummheiten im Kopf gehabt. In einer Clique gibt es immer einen Clown und einen Blödmann. Frank war zumindest damals der Blödmann. Er war der, der ohne nachzudenken überhastete Aktionen einläutete und einen in eine missliche Lage brachte, ehe man erfassen konnte, was geschah.
Er drückte noch einmal meine Schultern, sah mir ins Gesicht und ließ mich zögernd los. Mit einem Mal war er sehr ernst.
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