Manfred war ein bisschen in seinem abgewetzten Ledersessel zusammengesunken. Er wirkte konsterniert. Offensichtlich konnte er nicht begreifen, sich so getäuscht zu haben. Immer hatte er sich etwas auf seine Menschenkenntnis eingebildet, zu Recht, denn er irrte sich so gut wie nie, wenn es galt, Menschen einzuschätzen. Es war meist das Bauchgefühl, sein Instinkt, der ihn richtig handeln ließ. Der Instinkt, der ihn auch als Zeitungsmann erfolgreich gemacht hatte, ob in jungen Jahren als Reporter, als Redakteur oder jetzt als Chefredakteur. Immer hatte er das Gespür für die richtige Entscheidung, vor allem, wenn es darum ging, eine heiße Story zu bringen oder es lieber sein zu lassen. Fast nie verbrannte er sich die Finger. Auch bei der Auswahl neuer Mitarbeiter hatte er diesen sicheren Instinkt bewiesen. Umso mehr schien es jetzt an seinem Selbstbewusstsein zu nagen, dass er sich in einem Punkt in Paul geirrt haben sollte. Er wirkte angeschlagen, als müsse er eine Niederlage verdauen.
„Nun mach nicht so ein saures Gesicht. Du warst schließlich sein Chef. Auch wenn er mit dir befreundet war, konnte er doch die ganz persönlichen Dinge nicht mit dir besprechen. Auch ich war manchmal ein bisschen gekränkt, wenn er bei irgendetwas, das ihn bewegte, nicht mich sondern Heinz ins Vertrauen zog. Besonders sauer war ich natürlich, wenn es dabei um Berufliches ging.“
„Okay, lassen wir´s dabei. Da habe ich mich eben geirrt“, meinte Manfred mit nach wie vor etwas beleidigtem Unterton, „aber darüber wollte ich ja auch gar nicht mit dir sprechen. Vielmehr geht´s mir um die Frage, wie soll es mit uns weitergehen?“
Etwas irritiert sah Verena ihn an. „Wie meinst du das, wie es mit uns weitergehen soll? Meinst du beruflich?“
„Natürlich meine ich das beruflich. Du weißt ja selbst, dass deine Reportagen in letzter Zeit, nun - wie soll ich sagen - nicht die gleiche Qualität wie früher aufwiesen.“
„Du meinst, sie waren schlecht!“
„Nein, nicht schlecht, aber vielleicht nicht ganz so gut recherchiert wie sonst. Ein bisschen oberflächlich. Zum Beispiel jetzt die Sache mit den Chinesinnen. Wenn wir das so in Druck geben würden, wie du es geschrieben hast, hätten wir in null Komma nichts eine Unterlassungsklage am Hals!“
„Das sehe ich zwar anders, aber im Prinzip hast du recht. Bin selbst mit dem, was ich so in den ersten Wochen nach meiner Rückkehr verzapft habe, alles andere als zufrieden. Aber es geht mir eben nicht aus dem Sinn, dass Paul käuflich gewesen sein soll. Auch sein angeblicher Suizid passt nicht ins Bild.“
„Doch du kannst die Ergebnisse der KTU nicht einfach völlig ignorieren. Wenn ich richtig informiert bin, dann waren an Pauls Händen und an seiner Schläfe Schmauchspuren. Die Lage seines Oberkörpers, seines rechten Arms, seines Kopfes ... all das entsprach exakt der Analyse des Geschehensablaufs. Aus der Pistole war ein einziger Schuss abgegeben worden und auf ihr befanden sich nur seine Fingerabdrücke. Am überzeu-
gendsten war letztlich, dass auch auf der Tastatur ausschließlich Pauls Fingerabdrücke zu finden waren. Die hat der große Unbekannte ja nicht dahin gezaubert.“
„Du kannst es drehen und wenden, wie du willst. Ich bleibe dabei. Der Abschiedsbrief auf seinem Rechner ist getürkt. Davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Wenn er schon mir gegenüber keine Andeutung gemacht hat, dann hätte er mit Sicherheit wenigstens Heinz irgendeinen Hinweis gegeben.“
„Aber du weißt doch, dass er alles, aber wirklich alles, in seinen Laptop gehauen hat. Keine noch so kleine Notiz schrieb er mit der Hand. Schau auf seinem Schreibtisch nach. Übersät von kleinen handgeschriebenen Zetteln, aber nicht ein einziger, der von ihm selbst stammt.“
„Trotzdem“, sagte sie trotzig wie ein kleines Kind, „ich bleibe dabei. Der Abschiedsbrief ist getürkt. Wer vorhat zu sterben - und Paul war immer ein äußerst rational denkender und handelnder Mensch - hinterlässt keine Rätsel. Gerade er als akribischer Journalist hätte seine Story zu Ende gebracht. Er hätte aufgeklärt, schonungslos und offen. Schonungslos gegen sich selbst, wie er auch Anderen gegenüber, die sich schuldig gemacht hatten, immer gewesen ist.“ Und leise, wie zu sich selbst, fügte sie hinzu: „Er hätte sich nicht feige davongeschlichen.“
„Was heißt das im Klartext?“, wollte Manfred wissen. „Willst du die ganze Sache wieder aufrollen? Glaubst du den Recherchen der Kriminalpolizei und der Staatsanwaltschaft nicht? Vermutest du ein Komplott? Meinst du, Paul könnte einigen Herren in Russland allzu heftig mit seiner letzten Reportage über die Ermordung von Andrej Koslov im September auf die Füße getreten sein? Natürlich hat der Vizechef der Zentralbank sich keine Sympathien bei denen erworben, die alles andere als Licht ins Dunkel international operierender russischer Banken bringen wollten? Aber glaubst du, dass der russische Bär seine Arme bis zu uns nach Köln ausstreckt? Glaubst du am Ende sogar an eine geheimnisvolle Verschwörung zwischen Duma und russischer Mafia?“
Auf Verena prasselten seine Fragen wie ein starker Gewitterregen nieder. Sie nahm ihm übel, dass er nicht empfand wie sie, oder dass er nicht wenigstens Verständnis für ihre Zweifel aufbrachte. Sie konnte sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, dass der Stachel des Verletztseins, nicht der engste Vertraute von Paul gewesen zu sein, bei seiner heftigen Reaktion die eigentliche Ursache war.
Sie schwieg deshalb eine Weile, blickte den immer noch perlenden Regentropfen an der Scheibe nach und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, bevor sie sich wieder Manfred zuwandte.
„Du verstehst mich nicht, oder du willst mich nicht verstehen. Paul und mir ist es immer um Gerechtigkeit gegangen. Wie könnte ich mich damit abfinden, ihm nicht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? War er schuldig, muss ich damit künftig leben. Aber ich will Gewissheit! Ich will wissen, ob er käuflich war oder ob ein teuflisches Netz gesponnen wurde, in dem er sich verfangen hat. Ich brauche Sicherheit, ob er Schuld auf sich geladen hat oder, wenn das nicht der Fall ist, wer dahinter steckt.“
„Du glaubst also tatsächlich an eine Verschwörung?“
„Nein, Manni, du verstehst mich immer noch nicht“, fuhr Verena fort. „Ich will hier keine düstere Verschwörungstheorie um jeden Preis konstruieren, nur damit ich Paul reinwaschen kann. Es geht mir um die Wahrheit. Begreifst du das? Die Wahrheit will ich wissen. Wenn es tatsächlich ein Netzwerk gibt, dann will ich, dass jeder Einzelne zur Verantwortung gezogen wird. Ich will nicht diese mafiösen Strukturen, wie sie in Italien und Amerika gang und gäbe sind, für unser Land akzeptieren. Ich will nicht, dass irgendwann jeder, der Teil der Exekutive oder der Judikative ist, sich zurückzieht, weil er sonst um sein Leben oder das seiner Familie fürchten muss. Wie gesagt, ich kann mich irren. Ich gebe zu, dass sicherlich ein Teil meiner Überzeugung zurzeit noch darauf zurückzuführen ist, dass ich Paul geliebt habe. Aber ich würde mich schuldig machen, wenn ich seine Geschichte nicht schonungslos aufklärte, möglicherweise mit dem für mich bitteren Ende, dass ich ihn nicht so gekannt habe, wie ich glaubte, ihn zu kennen.“
Verenas Gegenüber schwieg. Soeben hatte er sich im Inneren noch etwas mokiert über ihre, wie er zunächst meinte, Verbohrtheit, über ihre durch Liebe geschlagene Blindheit. Doch jetzt war er nicht nur sprachlos und tief beeindruckt von ihrem flammenden Appell. Zunächst beleidigt wegen der ihm erst jetzt anvertrauten und daher besonders bitteren Wahrheit, meldete er sich jetzt als gemeinsamer, verlässlicher Freund von Paul ebenso wie von Verena. Auch der Journalist ihn ihm kehrte zurück.
„Glaub mir, ich wollte mich nicht lustig machen über dich. Im Gegenteil. Immer habe ich dein Engagement und deinen Spürsinn bewundert, der sich ja auch oft, wenn ich schon nicht mehr an den Erfolg glaubte, als richtig erwiesen hat. Vor allem geht es dir hier auch nicht - das habe ich inzwischen kapiert - um dein subjektives Empfinden, sondern um die objektive Wahrheit.“
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