"Bitte mit einem Wagen", erinnerte ihn die Verkäuferin.
Mit dem Blumenstrauß bewaffnet - die letzten Tulpen wohl für dieses Jahr - legte er die letzten Meter bis zum Altersheim zurück.
Altersheim. Das hätten sie sich noch vor zwei Jahren nicht vorstellen können. Sie waren immer gemeinsam gut zurecht gekommen. Er selber war so fit wie ein Turnschuh, immer Frühsport wie beim alten Turnvater Jahn und verweichlicht war so einer grundsätzlich nicht, der Krieg, Mauer, Revolte und Terror hinter sich hatte!
Er seufzte schwer.
Gerda hatte eben irgendwann einfach nicht mehr so gekonnt. Am Familientisch haben sie alle gemeinsam beschlossen, was das Beste war. Es hatte ihnen schier das Herz gebrochen. Sie hatten sich trennen müssen. Man hatte der Tatsache ins Auge sehen müssen: sich selbst konnte Hans-Hermann noch gut fortbringen, aber die Pflege seiner Gerda, das wäre über seine Kräfte gegangen. Er hatte sich zuerst geweigert, sie ins Altersheim zu geben, aber sie hatte ihre pergamenthäutige feine Hand auf seinen Arm gelegt und gesagt: "Mein Gott, Hermännchen, da haben wir doch schon Schlimmeres überstanden, oder nicht? Wir können uns ja jeden Tag sehen und den Nachmittag zusammen sein, weißt du, wie damals, als ich in den Siebzigern im Büro angefangen habe für halbe Tage. Weißte noch?"
Auch für die Nächte hatte sie einen Trost gefunden. Hans-Hermann wollte seine Gerda im Arm halten wie seit mehr als einem halben Jahrhundert! Nur im Arm halten!
"Hermännchen, du schnarchst fürchterlich und ich bin auch nich' mehr so lecker ohne dem Gebiss", hatte sie gesagt, seinen Arm getätschelt und dabei verschmitzt gelacht: "Stopp dir ein dickes Kissen daneben, dann fühlt es sich an, als wäre ich da!"
Ach, da hatten sie alle gelacht. Die Tochter war zudem erleichtert gewesen: dass die Eltern das alles derart leicht hinnehmen würden, damit hatte sie nicht gerechnet.
Jeden Tag besuchte Hans-Hermann seine Gerda und alles ließ sich ertragen, wenn sie sich bloß jeden Nachmittag umarmen, drücken und küssen konnten, wenn sie nur beieinander sitzen durften, bei Kaffee und Kuchen. Seine Hand immer zärtlich auf ihrer, ihre Hand sanft in seine geschmiegt! Es war ihr in dem vergangenen Winter täglich schlechter gegangen. Aber den Winter hatte sie glücklich überstanden, wie schon so viele im Leben. Hans-Hermann erinnerte sich des einen oder anderen Trübsals und Unglücks, das Gerda bewältigt hatte. Zurzeit standen die Karten nicht schlecht, dass sie ihre diamantene Hochzeit gemeinsam erleben würden.
Gemeinsam! Hans-Hermann stieß es bitter auf.
Er stand vor dem Altersheim. Er stand da wie an jedem Tag in den letzten Wochen. Er stand da und sah hinauf. Die Pflegerin hatte ihn entdeckt. Sie schob seine Gerda in ihrem Rollstuhl vor das Fenster. Er konnte von draußen erkennen, dass es Gerda war, aber die einzelnen Züge ihres Gesichts konnte er nicht ausmachen, auch mit Brille nicht. Lächelte sie? Bestimmt lächelte sie. Er winkte ihr mit den Tulpen zu. Sie winkte zurück. Sie hob den Daumen mehrmals in die Höhe. Die Tulpen gefielen ihr. Er legte seine Rechte auf sein Herz, wurde Gerda nun rot? Sie errötete so leicht. Immer noch wie ein junges Ding. Von draußen war das natürlich nicht zu sehen.
Ach, wie gerne, wie unsagbar gerne hätte er sie jetzt an sich gedrückt, seine liebe Frau! Wie gern hätte er ihre Hand in seiner gehalten, stundenlang! Bei Kaffee und Kuchen. "Du, meine Liebste", sagte er halblaut. Tränen wollten sich aus seinen Augen stehlen. Er winkte gleich wieder mit den Blumen, dadurch gelang es ihm, die Tränen hinunterzuschlucken. Und Gerda? Lächelte sie? Weinte sie? Von draußen war es nicht zu sehen.
Die Pflegerin kam und schob Gerda fort. Beide winkten ein letztes Mal einander zu.
Da hatte Hans-Hermann so vieles überstanden, aber das hätte er nicht gedacht, das hätte er nie für möglich gehalten, dass es ihm noch einmal das Herz brechen würde, dass ihn das allein ängstigte. Nur von draußen!
Auf einem kahlen Berg stand eine verwitterte Burgruine. Sie streckte den letzten ihr verbliebenen Turm gegen den Himmel, der sich um sie her stets bewölkte. Die übrigen Reste der einst sehr prächtigen Wehrstatt häuften sich zu einem formlosen Steinhügel. Sie sahen einem zur Erde gebeugten Menschen gleich. Hier und da stand noch eine niedrige Tür im breiten Mauerwerk, die zu tiefen, dunklen Gewölben führte, aus denen der Berg Moder und Schimmel atmete. Dreiviertel hohe Stahlgitter verwehrten den Menschen den Eingang, denn jederzeit stand zu befürchten, das eine oder andere Gewölbe könne weiter in sich zusammenstürzen und die gebeugte Ruine zu einem riesenhaften Steingrab zusammenfallen.
Das beeindruckte weder den Efeu noch das Schlingkraut noch die Brombeerranken. Hier, wo kein Baum sich hinverirren mochte, weil der felsige Boden seinen Wurzeln keinen Halt geben konnte, hier, wo nur ein vom Wind gedörrtes hartes Gras wucherte, fühlten sich anspruchslose Pflanzen zufrieden und häkelten ihre Blattornamente um Stein und Fels. Zu Füßen der Burg standen die Brombeeren, da, wo der Wind nicht so über sie herfahren konnte. Sie zeigten meist ihr abweisend-dorniges Gesicht, doch wenn ihre Zeit kam, dann hüllten sie sich in das herrliche starke Grün ihrer zerfurchten Blätter und öffneten ihre zartvioletten Blüten. Fünf Blütenblätter umgaben den Kelch wie Silberränder eine kostbare Brosche. Alsbald tupfte das Rot auf. Eine Vielzahl kleiner roter Beeren punktete nun an jedem noch so kleinen Dornenzweig. Die Beeren wuchsen, verfärbten sich, bis sie als glänzend-scharze Früchte schwerer an den Ranken hingen. Das war dann ein eigenes Bild: vor der schwarzsteinernen Runine, die von unten bis hinauf zur gebrochenen Zinne von Efeugrün umschlungen war, fächelten die grün-scharzen Brombeesträucher im Wind.
Dann war ein Leben in der alten Burg, wenn die Brombeeren schwärzten! Jegliche Art von Insekt, Wurm und Spinne fand hier ihr Paradies. Die Rabenvögel strichen in Schwärmen um die alte Burg, in deren finsteren, unterirdischen Verliesen die Fledermäuse lebten, die zur Brombeerzeit ihre Jungen aufzogen und manches Mal von den schwarzfunkelnden Früchten naschten.
Es war in diesem alten Gemäuer, wo in diesem Jahr eine besondere Zusammenkunft statthaben sollte. Die 'Internationale Gesellschaft für den Erhalt der Natur und die Rechte der Fledermäuse', IGENuRF', hatte es sich als Tagungsort erkoren. Die Ruine stand mitten in Transsylvanien, das die Fledermäuse weltweit aus irgendeinem Grund für das Zentrum und spirituelle Herz ihrer Gemeinschaft erachteten. Die Burgruine war ein idealer Ort, denn kaum eine Menschenseele interessierte sich für sie oder das Leben der kleinen Tierchen und Unkräuter dort. Niemand verwunderte sich, dass der Himmel über dem düsteren Gemäuer ständig grau wölkte, dass die Rabenvögel trübselig krächzend um es herschwirrten, und es in den Dämmerstunden hundertfaches Flügelzischen umschauerte, wenn die Fledermäuse zur Jagd zogen.
Warum die Tagung der Gesellschaft? Nun, ein freudiger Anlass für dieses Mal. Endlich hatte sich einmal etwas bewegt und war man im Zwist mit seinem größten Widersacher einen erheblichen Schritt weiter gekommen. Es war gelungen, den Feind in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Helden dieser Tat - das heißt ihre Vertreter, denn die Helden selbst ließen bei ihrer Heldentat das Leben, wie es Helden eben meisten zu ergehen pflegt -, sollten vor den Fledermäusen aller Herren Länder ausgezeichnet werden, anschließend ein Kongress das weitere Vorgehen planen. Man wollte sich einmal ordentlich auf die Schultern klopfen.
Für die Fledermausfrau Violetta Ciobanu bedeutete der Kongress jede Menge Arbeit. Sie war die Kastellanin der verfallenen Festung. Sie sorgte für die Unterbringung ihrer Mieter und die Ordnung in den Gewölben, für Speise, Trank und Unterhaltung, kurz und gut, sie besaß die vollständige Schlüsselgewalt und damit ein gerüttelt Maß an Verantwortung. So eine Veranstaltung von Weltformat, die brachte auch Violetta Ciobanus straff strukturierte Organisation an ihre Grenzen.
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