„Ja, sag' mal“, ruft sie empört: „Fernsehen vor der Schule – wir haben schon einmal darüber gesprochen, mein Freund!“ Er sieht sie verschlagen an: „Aber heute ist doch keine Schule. Also...“ Verdammte Kinderlogik, flucht sie innerlich.
„Trotzdem: aus“, befiehlt sie kurz. Er schaltet den Fernseher ab.
„Geh' dich mal waschen und und vergiss die Zähne nicht wieder. Ich mach hier schon mal das Fenster auf. Wir müssen jetzt mehr lüften“, sagt sie. Der Kleine verdreht die Augen und trottet ins Bad. Sie macht sein Bett. Dabei fällt ihr ein Plüschhase vor die Füße. Sie hebt das Tierchen auf und betrachtet es. Es ist sein erstes Kuscheltier gewesen und immer noch sein liebstes. Es ist abgegriffen und schmutzig, ein Ohr hängt am seidenen Faden, aber es wird geliebt. Andere Kuscheltiere sind schon verschenkt oder in den Schrank verbannt worden, aber der Hase hier, den versteckt der Junge morgens unter seinem Kopfkissen und zieht ihn abends heraus, wenn es niemand sehen kann, dass er innig mit ihm kuschelt. Er kann ohne den Plüschhasen immer noch nicht einschlafen.
Sie ist gerührt, sie weiß nicht, warum. Sie legt den Plüschhasen vorsichtig unter das Kopfkissen. Dann räumt sie einige Sachen zurecht. Als der Junge wieder ins Zimmer kommt, ist es recht gemütlich aufgeräumt. Sie lächelt ihn an.
„Wie wär's, wenn du jetzt ein wenig lernst. Ihr habt ja Aufgabenblätter bekommen. Damit kannst du anfangen“, schlägt sie vor: „Papa und ich arbeiten auch.“
„Ok“, sagt der Junge. Er setzt sich an seinen Schreibtisch und kramt in seinem Rucksack. Sie zieht den schmutzigen Teller unter dem Bett hervor, lächelt und geht leise hinaus.
In der Küche, wo sie den Teller gleich in die Spülmaschine steckt, sitzt die Große auf dem Küchenboard, lässt die Beine baumeln und benagt einen Apfel.
„Du solltest was Richtiges essen“, sagt sie. „Ach, ist das hier etwa aus Plastik“, antwortet das Mädchen patzig und hält ihr den Apfel vors Gesicht.
„Ich habe Omelettes gemacht“, übergeht sie die Frechheit. Das Mädchen rümpft verächtlich die Nase.
„Ich geh' jetzt joggen un' dann mach' ich auf Schule“, sagt es, indem es sich vom Schrank gleiten lässt, einen Kopfhörer aus seiner Hosentasche zieht und sich ins Ohr porkelt.
„Wegen eurer ganzen Scheiße dürfen wir ja jetzt unsere Freunde nicht mehr sehen, aber schön brav online-schooling machen“, ätzt die Große im Weggehen.
„Fräulein“, ruft sie drohend hinter dem Mädchen her und will aufbrausen, aber schon ist die Haustür ins Schloss gefallen.
Sie seufzt tief auf. Unserer Scheiße, denkt sie: was soll das denn wieder heißen. Sie zieht sich eine Tasse Kaffee und kehrt an ihre Arbeit zurück.
So vergeht mehr als eine Woche. Immer im gleichen Rhythmus. Er steht auf, checkt Nachrichten, verzieht sich auf den Dachboden, kommt mittags hinunter, um etwas zu essen, eine Weile im Garten herumzubaseln und dann wieder auf Stunden zu verschwinden.
Sie steht auf, wirft sich in schmucke Homewear, räumt erst einmal auf, arbeitet, sieht kurz nach den Kindern, kocht sich Kaffee, arbeitet, lauscht kurz auf die Bewegungen im Haus, geht nach der Arbeit einkaufen und erledigt alles übrige wie stets.
Der Junge wacht auf, sieht fern oder spielt, und wenn er die Eltern hört, die sich aus der Küche Kaffee holen, setzt er sich rasch an seinen Schreibtisch und bekrakelt eines der Arbeitsblätter, die die Schule so reichlich spendiert.
Das Mädchen schläft lange, quatscht über What's App mit ihren Freundinnen, geht joggen, erledigt dann seinen Schulkram an seinem Laptop, mokiert sich über das technische Versagen einiger seiner Lehrer und Lehrerinnen, erfindet Entschuldigungen für falsch verstandene und nicht gelöste Aufgaben und postet von sich Bilder aus seinem 'Seuchenknast'.
Als sie eines Morgens in die Küche kommt, hat er bereits das Frühstück gemacht. Er ist noch im Schlafanzug.
„Lohnt sich doch nicht, sich großartig anzuziehen“, beantwortet er lächelnd ihren fragenden Blick. Sie setzt sich zu ihm. Sie ist überrascht, dass auch er leckere Omelette zuzubereiten versteht. Sie unterhalten sich über steigenden Fallzahlen und fragen sich, wie lange das alles wohl noch gehen wird.
„Lange nicht, sonst liegt unserer Wirtschaft platt am Boden und dann geht es uns allen jahrzehntelang schlecht“, überlegt er, utilitaristisch angehaucht.
„Besser geht’s einem lange schlecht, als dass man tot ist“, murmelt sie. Daraufhin ziehen sie sich beide an ihre Schreibtische zurück, aber nicht ohne sich zu sagen: „Bis heute Mittag.“ Es ist wie eine Verabredung.
Mittags finden sie sich in der Küche. Sie machen sich das Essen warm. Sie ruft nach den Kindern. Der Junge kommt.
„Keinen Hunger“, brüllt das Mädchen von oben herunter.
Er zuckt mit den Schultern und tätschelt den Kopf des Kleinen: „Haste für die Schule was gemacht?“
„Rechnen.“
„Kann ich gleich mal sehen?“
Der Junge schaut bestürzt auf: „Aber das guckt Mama doch immer nachmittags an.“ „Kann ich ja heute mal machen“, sagt er lächelnd.
„Das trifft sich gut, denn ich muss noch los, um irgendwo Klopapier zu ergattern“, sagt sie. Sie fühlt eine Erleichterung in sich. Sie kann nicht sagen, weshalb.
Die Tage verlaufen fast unverändert. Nur, dass sie jetzt länger liegenbliebt und sich dann zu ihrem Mann an den Küchentisch setzt, wo sie eine Weile über Gott und die Welt sprechen, ehe sie sich in ihre Zimmer zurückziehen.
Eines Morgens findet sie ihn aber nicht in der Küche. Nanu, denkt sie, er muss doch schon aufgestanden sein! Sie schaut überall nach und findet ihn im Kinderzimmer. Er sitzt mit dem Kleinen auf dem Boden vor dem Bett. Beide verkrümeln Brot mit Schokocreme und unterhalten sich lachend über den Zeichentrickfilm im Fernsehen. Der Junge erzählt seinem Vater alles, was er über seine Helden weiß.
„Ach, ich hatte so ähnliche Typen“, sagt der Vater: „Käpt'n Balu. War was mit einem Bären, der krass Flugzeug fliegen konnte.“
„Hat der auch immer alle gerettet?“
„Klar. Und manchmal war das richtig gefährlich.“
Sie zieht leise die Türe wieder zu. Die beiden haben sie nicht bemerkt. Sie lächelt.
„Ey, warte mal kurz“, ruft das Mädchen in ihr Smartphone. Es lauscht. Woher kommt das Lachen? Es wendet sich wieder seinem Smartphone zu. Aber nach einem kurzen Plausch merkt es wieder auf.
„Du, Lena, sorry, ich muss da mal was checken. Ich glaube, meine familiy dreht ein bisschen ab. Corona-Koller, oder so. Ich meld' mich gleich wieder! Tschüssi!“ Sie wirft das Gerät aufs Bett und geht die Treppe hinab, dem Lachen nach.
Da sind Mama, Papa und ihr Bruder im Wohnzimmer. Sie spielen mit einem Luftballon. Sie spielen tatsächlich mit einem Luftballon! Wie Mama kichert und Papa ihr den Luftballon zuschmettert und der kleine Knirps vergeblich hochspringt, um den hoch über seinem Kopf zischenden Luftballon zu fangen, wie Mama ihm jetzt absichtlich den Ballon zufliegen lässt, und der Bruder nun seinen Papa abschmettert, der so tut als hätte ihn eine Kanonenkugel getroffen und wie albern sie dabei lachen!
Mama sieht sie an der Türe stehen. „Pia, komm, spiel' mit“, ruft sie. Aber Pia schnaubt nur verächtlich: „Kindergarten.“ Sie dreht sich auf dem Absatz um und steigt wieder hinauf in ihre Zimmer. Als sie die Tür hinter sich zugeworfen hat, muss sie doch ein bisschen lächeln. Meine verrückte Familie, denkt sie beinahe schon zärtlich. Sie wirft sich aufs Bett. Das muss sie gleich ihren Freundinnen schreiben.
Es ist schon kein Zufall mehr, dass sie sich alle in der vierten Woche des Lock-Downs beim Frühstück treffen. Papa bereitet es vor, Mama deckt den Tisch und dabei unterhalten sie sich über alles und jeden.
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