Danach renne ich ins Bad, greife mir aus der Schublade einen Kamm und streiche mir damit ein paar Mal durch die dunklen Locken.
Anschließend stürme ich ins Schlafzimmer. Ich durchwühle den Kleiderschrank auf der Suche nach einem passenden Outfit. Endlich habe ich es gefunden. In Windeseile tausche ich meinen flauschigen gelben Jogger gegen ein schwarzes Kostüm.
Kurz darauf verlasse ich das Haus und laufe den Kiesweg entlang zur Firma.
Vor der Eingangstür angekommen, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich atme tief durch.
Hinter mir höre ich ein lautstarkes Räuspern. »Wollen Sie nicht reingehen?«, vernehme ich die Stimme von Herrn Buton.
Fassungslos wende ich mich um. Der ist verrückt. Jetzt tut er so, als ob ich freiwillig hier draußen stehe.
Mit wütendem Blick auf seine Armbanduhr deutet er mir an, reinzugehen. »Los, worauf warten Sie? Die Akten müssen bis Montag fertig sortiert sein.«
Gemeinsam mit ihm gehe ich ins Haus. Leider ist er ständig übertrieben streng, deshalb widerspreche ich ihm nicht. Sonst droht er mir garantiert mit der Kündigung. Bis zuletzt spielt er sich als Herrscher auf.
Wir marschieren durch den engen Gang, deren sanfte Gelbtöne diesen tristen Ort freundlicher wirken lassen. Die grauen Bodenfliesen sind extrem rutschig. Jeden Tag muss ich aufpassen, dass ich mir mit meinen hochhackigen Pumps kein Bein breche. Im Vorraum angekommen, bleiben wir vor dem Schreibtisch stehen.
Ich werfe einen Blick darauf. Vier große Papierstapeln liegen herum. Ein paar Dokumente sind anscheinend auf den Boden gefallen und der Rest wurde unübersehbar im Abfalleimer daneben entsorgt. Ich verdrehe missmutig die Augen. Wurde der Tisch von einem Tornado heimgesucht? Hier herrscht das absolute Chaos.
Herr Buton grinst schief, dabei bilden sich Fältchen rund um seine Lippen. »Viel Erfolg bei der Arbeit. Ich muss jetzt zu einem Termin. Auf Wiedersehen. Vergessen Sie nicht, bis Montag ist alles fertig zu machen. Wenn der neue Chef kommt, will er sich nicht mit den alten Akten rumärgern.«
Ich lasse mich mit einem Seufzer auf den Drehstuhl fallen. »Einverstanden.«
Er verlässt die Firma und ich beginne augenblicklich mit der Arbeit. Mir steht schon jetzt der Schweiß auf der Stirn. Wie schaffe ich das nur alles alleine?
Einige Zeit später bereite ich mir im Büro von Herrn Buton einen Kaffee zu. Die dampfend heiße Tasse stelle ich auf dem Schreibtisch ab. Anschließend krame ich das Handy aus der Tasche und rufe Paul an. Ich bitte ihn, am Abend bei mir zuhause vorbeizuschauen, um meine Fische, die zwei Katzen und die beiden Hunde zu füttern. Das hat er die letzten Wochen auch getan, da ich jeden Tag wegen der vielen Defizite länger im Büro bleiben musste. Hoffentlich hat der neue Chef das alles besser im Griff.
Am Sonntagvormittag schiebe ich nochmals Überstunden, weil ich immer noch nicht mit dem Sortieren fertig bin.
Vor mir liegt ein riesiger Berg Rechnungen. Es ist mühsam, sie zu jedem einzelnen Auftrag zuzuordnen. Ich hoffe nur, dass ich bald einen Weg finde, schneller zu arbeiten.
Hinter mir höre ich Schritte. »Guten Tag. Wie kommen Sie voran?«, vernehme ich eine Männerstimme.
Erschrocken schlucke ich. Wer außer mir ist noch hier in der Firma? Ich wende mich langsam um.
Vor mir sehe ich einen attraktiven jungen Mann mit blondem Haar und strahlend blauen Augen. Er dürfte Anfang 30 sein. Das hellblaue Hemd und die schwarze Jeans, verschaffen ihm ein selbstsicheres, aber dennoch sportliches Auftreten.
Er verschränkt seine Arme und lächelt charmant, dabei fühle ich ein eigenartiges Kribbeln im Bauch. »Wie ich sehe, haben Sie viel Arbeit vor sich«, sagt er. Sind Sie die Sekretärin?«
Ich streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr, was bei meinen widerspenstigen Locken heute nicht so leicht ist. »Nein.«
Der Mann reibt sich über das Kinn. »Verstehe, dann sind Sie eine Hilfskraft.«
Ich rühre mich nicht von der Stelle und starre ihn nur verwundert an.
Er deutet auf den Stapel vor mir. »Sie müssen die Papiere noch einsortieren, stimmts?«
Mir schießen Tränen in die Augen. »Mein Chef will, dass ich alles bis morgen erledige. Das ist enorm anstrengend.«
Er sieht mich mitleidig an. »Sie Arme. Das ist eine fürchterliche Zumutung. Brauchen Sie Hilfe? Ich bin mit den verschiedensten Dokumenten der Firma Teleking vertraut.«
Ich zittere vor Nervosität am ganzen Körper. »Das müssen Sie nicht. Ich schaffe das schon.«
»Wissen Sie was, ich helfe Ihnen, damit Sie rechtzeitig alles erledigt haben.« Der Mann nimmt einen Stuhl vom Schreibtisch gegenüber und setzt sich neben mich.
In mir zieht sich alles zusammen. Hat er jetzt vor, mir Gesellschaft zu leisten?
Er greift sich ein Stück Papier vom Tisch, dabei streift er sanft meinen Arm. In dem Moment durchfährt mich ein wohliger Schauer.
»Haben Sie die Akten in einer bestimmten Reihenfolge sortiert?«, fragt er.
Ich schnappe mir ein Dokument und gebe vor, es mir intensiv durchzulesen.
»Was ist los? Mir ist schon aufgefallen, dass Sie ein bisschen schüchtern sind, aber Sie bedrückt doch was, oder? Vor mir brauchen Sie sich nicht zu verstellen. Ich habe auch manchmal das Gefühl, vor den anderen Menschen als zurückhaltend zu gelten.«
Ich werfe ihm einen verwunderten Blick zu. »Ehrlich? Sie wirken sehr selbstsicher auf mich.«
»Tja, das kommt daher, dass ich ein exzellenter Schauspieler bin. In meinem Inneren bin ich ein empfindsamer Mensch.«
Verrückt, ich hätte nicht gedacht, dass es ihm genauso geht.
»Los, kommen Sie, wir haben viel vor«, sagt er. »In der Zwischenzeit bitte ich Sie, mir zu sagen, wer Sie sind.«
Ich lehne mich zurück. »Ich heiße Natalie Wind, bin 25 Jahre und habe eine Lehre zur Bürokauffrau absolviert.«
»Sie müssen mit mir nicht wie bei einem Vorstellungsgespräch reden. Ich bin Ihnen nicht überlegen.« Er wirft einen Blick auf meine Kette. »Wow, der Anhänger sieht echt edel aus.«
»Den hat mir Mama zum Geburtstag geschenkt. Er besteht aus purem Gold. Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Kette ist das Einzige, was mich noch an sie erinnert.« Ich schlucke schwer. »Leider konnte ich ihr Haus nicht behalten, weil ich nach der Lehre kein Geld für den bestehenden Kredit hatte.«
Seine Augen beginnen zu glänzen. Er sieht an mir vorbei zur Tür.
Scheinbar schämt er sich dafür, Gefühle zu zeigen. Es muss mir gelingen, ihn abzulenken. Nur, wie genau stelle ich das an? Ich ziehe eine Tüte Fruchtbonbons aus der Tasche. Was Besseres fällt mir nicht ein. »Wollen Sie auch eines haben?«
»Nein, danke.« Er sortiert ein paar Akten in einen Ordner.
»Darf ich jetzt von Ihnen erfahren, wer Sie sind?«, frage ich.
»Betrachten Sie mich als einen Freund. Machen Sie sich keine Gedanken, Sie wissen bald mehr von mir, als Sie wollen.«
Der Typ redet verwirrendes Zeug. Es wäre interessant zu erfahren, was er hier treibt. Ich bin ihm zwar für seine Hilfe dankbar, aber dass er hier in der Firma ist, finde ich eigenartig. Wie ist der Mann überhaupt reingekommen? Die Tür war doch abgeschlossen. »Genug geredet«, sagt er. »Schnappen wir uns einen weiteren Stapel.«
»Leider ist mein Chef nicht wie Sie. Bin ich froh, dass er ab nächste Woche in Rente geht. In Zukunft wird es wohl aber auch nicht besser, denn ich habe gehört, dass sein Nachfolger ein dominanter, unsensibler Mann ist. Angeblich soll er schon mal da gewesen sein, doch an dem Tag hatte ich frei.
Er streicht sich mit der Hand über den Nacken. »Das hört sich schrecklich an. Ich hoffe nur, Sie überleben es, wenn er hier regiert.«
»Einige meiner Kollegen haben mir erzählt, dass sie einzeln zu einem Gespräch mit ihm gebeten wurden. Er will alle besser kennenlernen. Das finde ich unnötig.«
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