Ihr Hochzeitsfoto daneben war schon sehr verblichen, doch noch immer spürte sie diesen Glücksaugenblick in sich als sie da vor dem Kirchenportal neben Julius stand. Den Strauß tiefdunkelroter Rosen an sich gedrückt, ihrer beider Augenpaare ineinander verschlungen, so fest wie die Hände. Das stumme Lächeln für die Ewigkeit mit Liebe versiegelt.
Julius. Noch immer schien es ihr wie ein Traum, dass er da gewesen war. Da für sie. Mit ihr. Ein Glück, das ihr begegnet war als sie nicht mehr daran glaubte, dass es so etwas wie Glück für sie noch geben konnte. Nach diesen vielen Jahren voller Leid, diesem Krieg, den Jahren danach, die, auch wenn sie Frieden hießen, nichts anders waren als der Rest von Überlebenden, die ihre Wunden vergessen wollten. Die sich in ein neues Leben stürzten ohne das, was gewesen war, begriffen zu haben, ohne es heil werden zu lassen. Niemand fragte nach den Seelenwunden, die geblieben waren. Was wusste man davon, was wusste man von Traumata. Von möglichen Therapien. Das Leben wollte gelebt werden, das Leben war wieder lebenswert. Wunden des Körpers heilten irgendwann. Und die Wunden der Seele? Worüber nicht gesprochen wurden, was man nicht sah, das gab es nicht, war nicht wichtig. Das Jetzt war wichtig! Nach vorne schauen, das war alles, was zählte. Zukunft leben!
Und die Zukunft war licht. Emilia übersprang mit ihren Gedanken die schwierigen Nachkriegsjahre bis hin zu dem Tag als alles für sie nur noch glänzte. Als sie Julius das erste Mal sah. Julius, diesen überaus attraktiven Mann, der hinter seinem Flügel saß und die Welt mit seiner Musik einhüllte. Und auch sie fühlte sich eingehüllt davon, ließ sich bereitwillig gefangen nehmen. Wie kitschig. Wie überaus wundervoll war das, was ihnen beiden widerfuhr. Wundervoll und doch so selbstverständlich. Niemals gab es eine Frage, ein Zweifel zwischen ihnen. Es war alles klar. Klar und einfach.
Niemals sonst in ihrem Leben war etwas so einfach gewesen. Und diese Einfachheit bewahrten sie sich ein halbes Jahrhundert lang. Von dem Tag ihrer ersten Begegnung bis zu dem Tag, an dem Julius neben ihr im Bett lag und nicht mehr atmete. Vom Tag vor dem Traualtar bis zu dem Tag, an dem sie ihre Goldhochzeit feierten. Dieses Leben war das Leben, was sie immer leben wollte. Dieses Leben genoss sie jeden Tag, jede Stunde, die es dauerte. Dieses Leben war ein Stück Himmelsglück, das sie trug und leitete bis hierher. Bis zu diesem Sein, das sie allein ließ ohne ihn, ihren Seelengefährten, aber sich niemals einsam fühlen ließ. Das Glück war noch immer da, wie ein ewiges Leuchten in ihr. Sollte es eines Tages verlöschen, würde das ihr letzter Erdentag sein.
Bis dahin wollte sie es immer wieder neu aufleuchten lassen und es denen weitergeben, die es bisher so wenig hatten aufflackern sehen.
Sie blickte in die Augen ihres Mannes, der sie durch den Bilderrahmen ansah. Blickte in die Augen eines älteren, weißhaarigen Mannes mit Schalk im Gesicht. Das Bild, das neben ihrem Bett stand und das sie jeden Abend in die Hand nahm. Und auch jetzt. Aus einem inneren Bedürfnis war sie nach oben gegangen, zu ihm. Setzte sich mit ihm auf seine Bettseite und sprach mit ihm, bat ihn um Hilfe für Marissa, Juliane und für sich. Bat um Eingebung und Zuspruch und fühlte seine Nähe wie eine wärmende Umarmung.
Hörte seine lachende Stimme: „Lia, du brauchst mich nicht. Du bist so stark. Du warst immer so viel stärker als ich. Du warst immer mein Halt. Nicht umgekehrt. Ich sehe, dass du alles gut machst. Ich sehe, dass alles gut wird. Ich sehe euch alle. Ich sehe euch im Glück.“
*
Dann war Marissa wieder da. Wirbelnd wie der Wind vom Meer und so ungestüm, wie sie sein sollte als junger Mensch. Voller Energie und Lebensfreude. So war es richtig. Nicht die Marissa, die in sich zusammengekauerte. Das Lachen in ihrem Gesicht war viel zu strahlend als das es wieder verdrängt werden durfte von etwas Dunklem. Emilia freute sich über den Anblick ihrer Enkelin, die rufend zu ihr nach oben gerannt kam.
„Oma, ich bin wieder da!“ Sie stand pustend vor ihr und sprudelte sofort über. „Es war sehr, sehr lustig! Knut ist wirklich ein Seebär wie aus dem Buch! Wie er singt und spielt! Und wie er mit den Kindern umgeht und Spaß macht. Wirklich toll.“
Emilia lachte über den Eifer der Enkelin. „Ja, ich weiß. Er ist ein echtes Original. Freut mich, dass es dir gefallen hat.“
„Er hat nach dir gefragt. Er hätte dich gern da gesehen“, plapperte Marissa weiter. „Ich glaube, er einen ganz großen Narren an dir gefressen.“
„Ach, was. Kind!“ Emilia lachte jetzt lauthals. Schaute zu Julius hinüber und meinte zu sehen, wie er ihr belustigt zuzwinkerte.
„Doch, doch.“ Marissa blieb hartnäckig. Ließ sich auf das Bett neben Emilia sinken und sah sie eindringlich an. „Geht’s dir gut? Warum bist du schon hier oben? Wolltest du schon schlafen gehen?“
Emilia schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe ein wenig mit deinem Großvater geredet. Das hat mir gut getan. Ich habe noch ein bisschen nachgedacht über früher, was war. Gut und weniger gut. Und daran, wie es noch wird. Bei dir, bei deiner Mutter…“
Über Marissas Gesicht huschte ein flüchtiger Schatten. „Ach, Oma. Ich bin gerade ganz glücklich, mach dir keine Gedanken.“
„Gedanken kommen halt einfach, da kann man manchmal nichts machen. Irgendwie haben sie ein Eigenleben, drängen sich immer genau dann auf, wenn man sie gar nicht gebrauchen kann, nicht haben will. Ja – aber vielleicht sind sie genau dann richtig. Es hat doch wohl immer alles seinen tieferen Grund. Aber – egal …“ Emilia stoppte sich, gebot sich Einhalt bevor sie mit ihren Worten eine Richtung einschlug, die so gar nicht zu der unbeschwerten Stimmung der Enkelin passten und die sie ihr nicht nehmen wollte.
„Komm, gehen wir nochmal runter. Es ist noch ein Rest Rote Grütze da – hast du Appetit drauf?“
„Welch eine Frage“, Marissa grinste, stand auf, drückte der Großmutter einen warmen Kuss auf die Wange und war bereits in Richtung Küche unterwegs.
Später als sie schon im Bett lag, dachte sie an die Gedanken, die ihre Großmutter beschäftigen. Dachte an ihre Mutter. Obwohl sie es nicht wollte. Doch da war plötzlich deren Gesicht vor ihr und ihre Stimme, die immer irgendwie anklagend klang. Sofort zog sich in ihr etwas zusammen. Ein Druck legte sich auf ihre Brust und bedrängte sie. Sie schlang ihre Arme um sich selber, wie um sich Schutz zu geben. Dann atmete sie tief ein und aus, schloss fest die Augen und suchte Zuflucht im Schlaf.
*
Das Blinzeln der Sonne, die durch das Dachfenster hineinsah, kitzelte sie an der Nase und legte einen rotwarmen Schimmer auf ihr Gesicht, der so intensiv war, dass sie wach werden musste, ob sie wollte oder nicht. Es musste schon recht spät sein, sonst kletterte die Sonne nicht so weit nach oben. Und es war warm hier unterm Dach. Marissa befreite sich von ihrer Bettdecke, legte ihre nackten Beine darauf und blieb mit verschränkten Armen liegen, blickte in das Himmelsrechteck voller Blau. Sie wollte hier liegen bleiben, einfach da sein, nichts denken, nichts tun müssen. Sobald sie aufstand, würde etwas geschehen, das spürte sie. Sobald sie die Treppe hinunter ging, in die Küche, durch die Tür auf die Terrasse, sobald sie im Garten stand, würde etwas in Bewegung geraten, das sie meiden wollte, dem sie auswich seit sie hier her gekommen war. Seit sie München fluchtartig verlassen hatte. Aber sie hatte immer gewusst, dass sie nicht immer den Kopf einziehen konnte, sich verstecken. Irgendwann würde sie sich dem Draußen stellen müssen. Und dem Drinnen. Dem Selbst in ihr.
Der Schlaf, der sie gestern so schnell eingeholt hatte, war unruhig gewesen. Bilder hatten sich wieder gejagt, wie schon so oft. Gesichter, Orte und Zeiten waren durcheinandergepurzelt und ließen sie jetzt unruhig daliegen. Sie hatte die Traumszenen nicht fassen können, ihr Bemühen sie jetzt im Wachen zurückzurufen um sie begreifen zu können, war vergeblich. Je mehr sie nach ihnen griff, desto schneller lösten sie sich auf. Platzten wie flirrende Seifenblasen. Marissa stieß resigniert Luft durch die Nase aus, strampelte heftig die Bettdecke auf den Boden und warf mit einer ungestümen Geste ihr Kopfkissen gegen die Zimmertür.
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