Marissa aß mit einer Art schlechten Gewissens ihr zweites Stück Pflaumenkuchen, konnte es ihr denn noch schmecken? Sie blickte zu ihrer Großmutter hinüber, die wohl spürte, was sie dachte. „Genieße es, Kind. Es ist alles gut. Du sollst dir nicht den Appetit verderben lassen, auch wenn ich dir erzählt habe, wie wir damals manchmal hungern mussten. Doch das ist vorbei und du und ich können so viel essen wie wir wollen. Das wichtigste ist, es wert zu schätzen und nicht einfach achtlos damit umzugehen und es als allzu selbstverständlich hinzunehmen. Ich freue mich sehr, wenn es dir schmeckt.“
„Oma, du bist so großartig“. Marissa ließ ihre Kuchengabel sinken. „Wie kannst du so gelassen sein?“
„Warum sollte ich nicht? Was nützt es, in der Vergangenheit zu verharren. Was gewesen ist, ist gewesen. Jetzt ist jetzt. Alles andere ist unwichtig. Der Augenblick ist das, was wir haben. Und wenn der Augenblick Pflaumenkuchen ist, dann koste ihn aus.“
„Das tue ich nur zu gerne. Und ich denke, ich verstehe, was du meinst.“ Marissa lehnte sich zurück, trank einen Schluck Tee. „Doch, auch wenn etwas vorbei ist, wie der Krieg, wie das letzte Jahr, wie gestern. Dennoch ist es doch noch da, es tut uns doch noch etwas. Ich spüre das.“
„Das ist wohl so“, nickte Emilia, „und daher ist es mir auch wichtig, dass du erfährst, was war. Es lässt uns allen viel Wichtiges über uns erfahren, aber wenn wir die Zusammenhänge sehen und verstehen, dann müssen wir alles gehen lassen, damit wir frei unser Leben im Jetzt leben können. Es ist gut von dem zu wissen, was in der Familie geschehen ist, es gehört zu uns, zu dir. Doch du darfst darin nicht verhaften, bleib bei dir. Lebe jetzt. – Ich denke, es soll so sein, dass du erfährst, was früher gewesen ist, damit du deine Identität erkennst. Du bist großartig, Issa. Du weißt es nur nicht.“
Irgendwie hatte das Gespräch eine andere Richtung eingeschlagen als geplant. Statt über die Vergangenheit zu reden, waren mit einem Mal Dinge wichtig, die das Leben jetzt betraf. Und was konnte letztlich auch wichtiger sein. Marissa genoss es hier mit der Großmutter zu sitzen und einfach nur da zu sein. Und auch Emilia fühlte sich überaus wohl hier mit der Enkelin, die ihr so nah war. Schon immer hatte sie einen besonderen Draht zu ihr verspürt, doch lange Zeit hatte sie nicht gewusst, wie sie diesen nutzen konnte, sodass er für sie beide wirkungsvoll war. Jetzt endlich schien der Austausch zwischen ihnen zu funktionieren. Da war es nicht weiter von Bedeutung, dass der Auslöser in Ereignissen lag, die lang vorbei und alles andere als angenehm waren. Wichtig war die innere Verbundenheit, die sich mehr und mehr zwischen ihnen festigte. Emilia wurde es warm ums Herz und sie legte dankbar die Hand auf die der Enkelin. Erst schien es als wolle diese die Hand zurückziehen, schien nicht sicher zu sein, was die Geste zu bedeuten hatte. Doch sie ließ ihre unter der warmen, alten Hand liegen. Ihre Augen suchten im Gesicht der Großmutter. Zu sagen gab es dabei nichts. Es war alles zu verstehen.
*
Als Knut sie später abholte, standen die Beiden schon am Weg und blickten ihm entgegen. Sie strahlten eine Ruhe aus, die den alten Friesen beeindruckte. „Wo ward Ihr denn?“ fragte er, „Ihr seht aus als wärt ihr weit weggewesen.“
Emilia lächelte leicht. „Vielleicht waren wir das auch.“
„Oh, oh – denn will ich mal nicht weiterfragen“, Knut machte eine vage Handbewegung. Er spürte, dass es da nichts zu erfahren gab. Er half Emilia auf den Sitz neben Marissa, schnalzte mit der Peitsche und pfiff sich die Unterhaltung selber. Irgendwann fing er mit seinem tiefen Bass an zu singen . „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord…“
Unwillkürlich musste Marissa lachen. „Was denn, Deern. Ist das nicht recht? Heut Abend ist Dünensingen, da muss ich mich einölen.“
„Doch, doch – das ist klasse.“ Marissa konnte sich aber nicht mehr halten und steigerte sich in einen wahren Lachanfall hinein bis die beiden anderen nicht umhin konnten, mitzulachen.
Derart frohgelaunt ging es über den Dünenweg. Kurz vor der Ortschaft schnappte Knut nach Luft: „Deern, das bringt mich bannig aus der Puste. Wie soll ich dann denn noch singen und Quetschkommode spielen?“
„Tut mir Leid“, Marissa saß das Lachen immer noch locker, „es kam so aus mir raus.“
„Ist schon recht, Lachen ist gesund“, der gutmütige Knut war alles andere als nachtragend. „Wie ist es, kommt ihr nachher? Ist doch immer ein Spaß.“
Emilia sah ihre Enkelin an: “Magst du gehen? Ich denke, mir ist es zu viel.“
„Mal sehen. Vielleicht.“ Marissa gab sich unschlüssig.
„Wenn, dann komm früh, sonst sind die besten Plätze weg. Ist immer voll da“, empfahl Knut. Marissa nickte, war sich aber nicht sicher, ob sie wirklich gehen würde. Irgendwie drängte es sie, im Buch weiterzulesen, das die ganze Zeit ungeöffnet in dem Beutel neben ihr gelegen hatte. Sie wollte alles wissen, wollte dem Nachspüren, was geschehen war, was ihre Großmutter, ihre Urgroßmutter, ihr Großonkel hatten erleben müssen. Wollte mehr von der Dankbarkeit spüren, die sie vorhin gefühlt hatte. Dankbarkeit für ihr Leben hier und jetzt jenseits der großen Katastrophe Krieg.
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Mein lieber Josef, 29.Januar 1941
Wie sehr habe ich mich gefreut, gestern Deinen Brief in den Händen zu halten. Es hat mich sehr berührt zu merken, dass Du auch an „unseren Tag“ gedacht hast, trotz dieses Fernseins voneinander, trotz dieser unglücklichen Zeit, die doch ohne Dich so anders ist, so gar nicht mehr vollständig. Ich vermisse Dich schmerzlich, jeden Tag mehr. Und auch die Kinder – sie fragen sehr oft nach Dir, vor allem Lia. Nikolas ist so sehr gefasst. Ist so vernünftig. Ich glaube, er will mir zeigen, dass er schon sehr erwachsen sein kann. Ist sich seiner Rolle als einziger Mann in der Familie sehr bewusst. Es ist manchmal sehr berührend, wie er sich um Emilia sorgt, wenn sie wieder aus einem Albtraum aufgeschreckt. Seit der schrecklichen Bombennacht, wo sie ihre Freundin Elsa verloren hat, weint sie viel im Schlaf. Ich glaube, sie weiß es gar nicht. Tagsüber ist sie unbeschwert und fröhlich, lässt sich gerne von Nikolas ablenken. Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Kinder es schaffen, noch aus Trümmern etwas zu schaffen. Sie spielen oft bei den Schuttbergen, suchen nach Granatsplittern und wetteifern danach, wer den größten findet. Manchmal beneide ich sie um diese Unbekümmertheit. Sie sind noch so voll von Zukunft, voll von Glauben an das Gute. Das gibt mir selber immer wieder Zuversicht, dass sich alles zum Guten wenden wird. Dass diese schwere Zeit bald vorbei ist und wir wieder zusammen als Familie sein können. Uns geht es ja auch jetzt noch recht gut. Was haben andere schon erleiden müssen. Unser Haus steht noch, wir haben zu essen. Etwas findet sich immer. Wie dankbar sind wir für Deine Pakete und Deine Briefe. Ach wie groß ist immer wieder die Erleichterung von Dir zu hören. Ich weiß ja, wie schwer Du arbeitest. Ich möchte nur wissen, dass Du gesund bist. Das ist mir so viel wert. Jeden Tag wandern meine Gedanken zu Dir. Wie gerne würde ich dann mit Dir reden, Dich bei mir spüren. Ach, oft spüre ich Dich auch ganz nah bei mir. Das tut mir so wohl. Ich bin so oft müde. Es vergeht kaum eine Nacht, die wir nicht im Keller verbringen. Letzte Nacht war es wieder recht schlimm. Kaum waren die Kinder im Bett, gab es Alarm und ich hatte Mühe, die beiden aus den Federn zu bekommen. Es ist jetzt schon recht kalt und unten im Keller gibt es keine Heizmöglichkeit. Die Decken reichen nicht aus um es richtig warm zu haben. Glücklicherweise schlafen die beiden trotzdem meisten gleich ein. Wir Erwachsenen haben diese Ruhe kaum. Wir sitzen da und warten. Zittern vor Kälte, vor Angst und Ungewissheit. Wir sprechen wenig. Die alte Frau Meier betet oft, ich höre es kaum. Ich habe mein Büchlein dabei, schreibe wenn es geht. Jeder hat so seine Art die Zeit zu bewältigen.
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