„Emma. Komm schon. Es wird Zeit.“ Ungeduldig wartete mein Papa an der Tür, während ich meine noch fast leere Schultasche aus dem Schrank zog und dann hastig meine Schuhe anzog. „Ja, ja. Ich komm' ja schon.“
Meine Mama kam hinter mir angelaufen und legte ihre Arme um mich. „Ich wünsche dir alles Gute für deinen ersten Schultag.“
„Danke“, sagte ich und befreite mich sanft aus ihrer Umarmung. „Es wird schon alles passen.“
Mein Papa warf mir einen ungehaltenen Blick zu. Dann drückte ich meiner Mama noch schnell einen Kuss auf die Wange und folgte meinem Papa in den Wagen. Sobald ich die Tür zugeklappt hatte, warf er den Motor an und dann fuhren wir auch schon los.
„Sind wir so spät dran?“, fragte ich. „Es ist doch noch bisschen hin bis es acht ist und es anfängt.“
Er fuhr um die Biegung aus unserer Straße heraus und antwortete: „So spät sind wir nicht. Aber ich möchte, dass du noch genügend Zeit hast, um dein Klassenzimmer zu finden. Und wenn du mit dem Bus gefahren wärst, wärst du für den ersten Tag zu spät gekommen, um dich noch bisschen zu orientieren und dir Zeit zu lassen.“
Ich nickte und blickte verträumt aus dem Fenster.
Ich wollte nicht hierherziehen. Ich hatte meine alte Schule aufgeben müssen. Meine Freunde. Vor allem meine beste Freundin Vanessa. Von der Großstadt jetzt auf das Land. Aber es ging nicht anders. Mein Papa hatte eine neue Arbeit bekommen, wo er viel mehr Geld bekam. Dafür wohnten wir jetzt in einem schönen Haus mit einem Garten. Weg von einer alten, modrigen Wohnung, rein in ein großes Gebäude.
Alles hier löste in mir ein ganz neues Gefühl aus. Es gab mehr Platz. Mehr Natur. Viel mehr Freiraum. Von der Enge der Großstadt, die mir manchmal so vorkam, als würde sie mir die Luft zum Atmen rauben, war hier nichts mehr zu spüren.
Aber trotzdem hatte ich Angst. Angst vor all dem Neuen und Ungewohnten, was mir hier begegnen würde.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen lenkte meine Papa uns durch die verschiedenen großen und kleinen Wege aus der Stadt hinaus und dann auf eine breite Landstraße, die geradewegs zur Schule führte.
Links und rechts von der Landstraße sah ich immer wieder Abbiegungen, die zu anderen Orten führten.
Ansonsten waren da Bäume. Weite Felder. Bäume. Und noch mehr Bäume und weite Felder.
Einige von den Bäumen stellten den Beginn von dichten Wäldern dar, welche tief und groß zu sein schienen. Ich wollte nicht wissen, was dort vielleicht an Tieren lauern könnte.
Je näher wir der Schule kamen, desto flauer wurde es in meinem Magen und eine unangenehme Angst tauchte langsam in mir auf und drückte mich fester in den Autositz hinein. Als wir schließlich ankamen und mein Papa direkt gegenüber der Schule anhielt, wollte ich am liebsten wieder zurück in meine Großstadt, wo mir alles so gut bekannt war.
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Das Schulgebäude befand sich auf einer kleinen Anhebung am Stadteingang. Es war solide gebaut, hatte feste dunkelbläuliche Außenwände und wirkte insgesamt robust und mächtig.
Man konnte von zwei verschiedenen Richtungen in die Schule kommen.
Entweder von dort aus, wo ich und mein Papa gerade geparkt hatten. An einer Nebenstraße, die an der Schule vorbeiführte. Man musste nur noch eine kurzen gepflasterten Weg zurücklegen und konnte dann die Schultüren öffnen.
Oder aus der Richtung der Parkplätze für die Buse und die Autos, die einen Spaziergang entfernt weiter unten lagen. Dabei musste man auch einiges an kleinen Treppenstufen aus Stein nach oben steigen. Einige vereinzelte Schüler und auch einige Lehrer bewegten sich auf diesem Weg gerade auf den Schuleingang zu.
„Da wären wir nun“, sagte mein Papa und stellte den Motor ab, damit uns die Geräusche des Autos nicht störten. „Du wirst das schon hinbekommen“, beruhigte er mich, als er meinen unsicheren Gesichtsausdruck bemerkte.
Ich nickte nur und schwieg. Ich machte gar keine Anstalten aus dem Auto zu steigen.
Mein Papa legte die Hand auf meine Schulter. „Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Aber warte ein paar Wochen ab. Dann wird alles seinen Lauf nehmen und du wirst dich daran gewöhnen und vielleicht wird es dir auch gefallen.“
Ich nickte erneut.
„Und falls du deinen Klassenraum nicht finden solltest, kannst du ja einfach einen Lehrer fragen.“
Ich schwieg immer noch. Doch dann wurde mir klar, dass es sowieso kein Zurück mehr gab. „Bis dann“, sagte ich.
Daraufhin stieg ich mit wackeligen Beinen aus dem Fahrzeug und öffnete die hintere Tür, um meine Schultasche herauszuholen. Als ich sie hatte, schaute ich nach links und rechts, um mich zu versichern, dass kein Auto vorhatte vorbeizufahren und lief danach über die Straße. Ich winkte meinem Papa noch einmal zu. Dann machte er das Auto wieder an und fuhr davon.
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Wir sind schon einmal am Anfang der Sommerferien zusammen zur Schule gefahren, um uns einen Überblick der Schule zu machen und um mich dort anzumelden.
Damals ist mir das Gymnasium gespenstisch leer vorgekommen und die monotonen, weißen Wände und der graue Boden, der überall in der Schule war, hatten in mir ein bitteres Krankenhaus-Feeling geweckt. Das Innenleben der Schule war recht schlicht und farblos gehalten. Hier und da gab es einige kleine Kunstausstellungen von Schülern. Ein paar Bilder, die an der Wand gehängt waren. Aber ansonsten war alles ziemlich kühl und sogar etwas leblos gewesen.
Als ich jetzt die Tür aufschwang und die große Aula betrat, war schon ein geschäftiges Leben im Gange.
Gruppen von Schülern machten sich an verschiedenen Stellen gemütlich. Lehrer redeten mit anderen Lehrern sowie mit Eltern von Schülern, dessen erster Schultag heute wohl war, denn die Kleinen standen unsicher neben ihren Eltern oder in der Nähe mit anderen ihres Alters und wussten nicht so recht, was sie tun sollten. Sie taten mir ein bisschen leid und erinnerten mich auch irgendwie an mich selbst.
Immer mehr weitere Personen traten durch die Schultür hinter mir und langsam füllte sich der Raum.
Als ich mit meinem Papa vor einigen Wochen hier gewesen war, sind wir im Sekretariat gewesen und ich wurde anschließend von einer freundlichen Mitarbeiterin durch die ganze Schule geführt.
Im Erdgeschoss gab es eine große Aula und eine Cafeteria. Auch kam man von da aus in einen Pausenhof, der draußen war, den man nutzen konnte. Im Erdgeschoss befand sich jeweils ein Klo für Mädchen und Jungen. Die Klassenzimmer für die Fächer Musik und Kunst waren auch alle in diesem Bereich angesiedelt. Für die restlichen Fächer befanden sich die Räume im ersten oder zweiten Stock, ebenso je Stock wieder erneut ein Klo für Mädchen und Jungen getrennt. Die Sporthalle und den Sportplatz konnte man über einen Eingang in der Aula erreichen. Genauso wie einen großen Mehrzweckraum, in dem manchmal Prüfungen stattfanden.
Die Frau aus dem Sekretariat hatte mir sogar die wichtigsten Räume aufgesperrt und mir alles erklärt. Sie hatte mich auch in die Sporthalle, auf den Sportplatz in Freiem und sogar in das nahegelegene Hallenbad auf dem Schulgelände, welches auch abends im Herbst und Winter für normale Badegäste und nicht nur für Schüler offen hatte, geführt.
Sie hatte mir gezeigt, dass in der Aula eine Pinnwand extra für die Oberstufenschüler angebracht war. Dort würden dann am ersten Schultag die Schülerlisten mit der jeweiligen Raumnummer, in welchen die Hauptkurse stattfanden, aushängen. In diesen bestimmten Raum musste man sich am ersten Schultag begeben.
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Die Pinnwand war in einem abgelegenen Bereich der Aula, am Anfang des Ganges, welcher zu den Kunsträumen und der Mehrzweckhalle führte.
Ich ging dorthin und fand eine kleine Schülergruppe vor, die dicht an der Tafel stand und ihre Klassenzimmer suchten.
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