Wie könnte ein Kind das auch jemals begreifen?
Abgesehen von meinem Äußeren, war allerdings das, was in mir war, das was mich von allen anderen unterschied. Der Fluch – mein Fluch.
Tock – tock – tock.
Jeder besaß nur eine Seele, die sich für eine Seite entschieden hatte. Das war das Gesetz der Natur. Die helle Seite, das Reine, das Gute. Zu ihr gehörten die Geistlichen, die Heiler, die Unschuldigen und Rechtschaffenen. Auf ihrer Seite würde es keinen Verrat, kein Leid, keinen Schmerz geben. Nur Glückseligkeit und Rechtschaffenheit. Das Gegenstück dazu war die dunkle Seite eines Menschen. Ihr gehörten all jene an, die vom Weg abgekommen waren.
Das Besondere an mir war, dass ich es vermochte beide Seiten gekonnt zu vereinen. Ich besaß nicht nur eine, sondern zwei Seelen. Aus mir entsprang das Reine und Gute, genauso wie ich die Quelle allen Bösen war. Meine Magie beinhaltete sowohl das eine, wie das andere. Ich war mit unglaublich mächtiger Magie gesegnet oder verflucht, wie auch immer man es sehen wollte.
Ich erinnerte mich zurück an die Worte meiner Tante an jenen Abend, als sie sagte, dass alle Fluchträger vor mir diejenigen die sie liebten, mit ins Verderben gerissen hätten. Ich glaubte ihr, denn es war oft nicht einfach beide Seiten gleichermaßen zu beschwichtigen und dieses zerbrechliche Gleichgewicht zu bewahren. Die Dunkelheit lockte einen mit süßen Versprechungen, während die helle Seite für sich sprach, von der Hoffnung, die ihr zu eigen war.
Dieser Fluch, entsprungen aus einer alten Legende, begründet aus vielen Erzählungen und Überlieferungen über die Jahrhunderte hinweg, war all das, was mich ausmachte.
Ich seufzte und strich mir eine meiner weißen Locken hinter das Ohr. Mein Blick glitt über die vielen, verwitterten Grabsteine vor mir. Obwohl die Dämmerung schon fast in die Nacht überging, konnte ich all die Inschriften auf ihnen lesen. Ich hatte sie schon so oft gelesen, dass ich sie mittlerweile auswendig kannte.
Seit damals, als ich meine Schwester das letzte Mal streitend mit meiner Tante gesehen hatte, waren fünfzehn Jahre vergangen.
Fünfzehn Jahre seit mir das Schicksal auf harten Weg gezeigt hatte, was es bedeutete die Trägerin des Fluchs zu sein.
Fünfzehn Jahre seit ich in die verlassenen Mauern von Kassathor verbannt worden war.
Tock – tock – tock.
Für mich war es kein wirklicher Fluch, für mich war es einfach das, was mich ausmachte. Der Rest des Landes sah das allerdings anders und in jener Nacht musste ich das schmerzlichst feststellen.
Meine Tante sollte letztendlich Recht behalten, denn die Nächsten, die gegen die Tore unserer Burg klopften, waren nicht so leicht zu beschwichtigen gewesen wie Sira gehofft hatte.
Sie nahmen mir alles, nahmen mir mein Zuhause, meine Familie und den Glauben an Hoffnung.
Ich hatte meine Familie geliebt. Sira, meine Brüder Tomas und Kilan und natürlich auch meine Tante und meinen Onkel. Unsere Eltern starben bei einem feigen Hinterhalt, als ich drei Jahren alt war. Mein Vater war der dritte der vier Burgherrn, die die Grenzen unseres Landes verteidigten. Er wurde von seinen Untergebenen geliebt und respektiert, genauso wie meine Mutter, die ihm in allen Belangen zur Seite stand. Seit dem Tod unserer Eltern hatte Sira, meine Brüder und mich unter ihre Fittiche genommen. Sie war nicht nur unsere Schwester, sie war so viel mehr gewesen und als ich sie an dem Morgen, nach dem Streit mit meiner Tante, kalt und regungslos in ihrem eigenen Blut liegen sah, brach für mich eine Welt zusammen.
Ich hatte die nächtlichen Angreifer nicht gehört, sie waren nicht in mein Zimmer gekommen. Ob es an dem Fluch lag, vor dem sie sich vielleicht fürchteten oder wegen Zacharias der neben meinem Bett schlief, wusste ich nicht. Es machte im Grunde auch keinen Unterschied. Sie ermordeten Sira kaltblütig im Schlaf und tief in mir drinnen ahnte ich, dass es meine Schuld war.
Damals spürte ich, wie die dunkle Seite in mir ihren Kopf hob und sich zum ersten Mal weigerte wieder zu verschwinden.
Um mich herum rauschten die Bäume des schwarzen Waldes und erzählten ihre eigene Geschichte. Erzählten von den Geheimnissen die unter den dichten Blattkronen verborgen waren, eines so finster und böse, wie das andere.
„ Grübelst du schon wieder?“
Zacharias Stimme in meinem Kopf ließ mich lächeln.
„Nein, nicht wirklich.“
Lautlos schob sich ein riesiger Schatten zwischen den Grabsteinen zu meiner Rechten hindurch und ich konnte Zacharias erkennen der gemächlich näher kam. Seine großen Pfoten hinterließen Abdrücke in dem matschigen Boden des Friedhofs und feine Nebeltröpfchen hingen in seinem Fell. Ich wusste, dass er lieber vor dem Kamin liegen und sich den Pelz versengen lassen würde, als hier draußen bei diesem Wetter herumzustreifen.
„ Du erkältest dich.“
Zacharias gleichgültige Stimme konnte mich nicht täuschen. Ich wusste, dass er sich um mich sorgte, daher war er mir auch gefolgt. Selbst wenn mir hier draußen nichts passieren würde, so fiel es ihm dennoch schwer mich aus den Augen zu lassen.
„Ich will nur ein wenig die Nacht genießen.“
Zacharias legte sich zu Füßen des Grabsteins und bettete seinen gewaltigen Schädel auf seinen Vorderpfoten.
„ Bei diesem Wetter? Du warst noch nie gut im Lügen Ysa.“
Ich verzog ertappt den Mund und legte meinen Kopf in den Nacken. Über mir konnte ich durch den Nebel hindurch den vollen, silbernen Mond erahnen.
„Heute sind es fünfzehn Jahre Rias.“
„ Ich weiß. Ich habe es nicht vergessen. Bist du deshalb den ganzen Tag schon so grüblerisch?“
„Ich bin nicht grüblerisch! Außerdem brauchst du dich nicht über meine Stimmung zu beklagen. Du bist nicht viel besser. Du verkriechst dich die meiste Zeit oder schläfst faul vor dem Kamin!“
Ich spürte Rias bernsteinfarbenen Blick auf mir und sah ihn herausfordernd an. Er knurrte leise und senkte seinen Blick. Ich verkniff mir ein Lächeln, denn ich wusste, wie er es hasste, wenn ich Recht hatte. Irgendetwas war los mit ihm, doch bis jetzt tappte ich darüber noch im Dunkeln.
„ Wir sollten zurückgehen.“
Der Wind frischte auf und zerzauste mein langes Haar. Ich liebte die Stille des Friedhofs, denn es tat gut, ab und an dem Trubel der Burg zu entkommen.
„Nur noch ein bisschen. Ich brauche etwas Ruhe um mich innerlich wieder etwas zu sammeln“, bat ich leise.
Der Jahrestag an dem Mord an Sira warf mich jedes Mal aufs Neue aus der Bahn. Mein altes, gut behütetes Leben hatte an diesem Morgen geendet, als ich neben Sira bitterlich weinend in ihrem bereits kalten Blut kniete. Ich wusste nicht mehr, wie lange ich dort saß, aber als ich das Bersten einer Tür hörte und die lauten Stimmen, drang schon heller Sonnenschein durch das Fenster herein. Ich wurde in meinem blutigen Nachthemd in die Eingangshalle meines Zuhauses gezerrt, wo ich meine Tante mit harten Gesichtsausdruck stehen sah. Ich wollte zu ihr laufen, mich von ihr trösten lassen, meinen Schmerz mit ihr teilen, aber unbarmherzige Hände hielten mich zurück. Neben mir konnte ich Zacharias erkennen, der von fünf Männern umringt wurde, die einen rotfarbenen Zauber auf ihn wirkten und ihn an Ort und Stelle festhielt.
Der Mund meiner Tante öffnete sich und doch verstand ich ihre Worte nicht. Ich verstand gar nichts mehr.
Warum half sie mir nicht? Wusste sie denn nicht, was Sira widerfahren war? Wer waren diese Männer, die sie mitgebracht hatte?
All das hatte ich mich in meiner Angst und Verwirrtheit gefragt und erst Jahre später hatte ich begriffen, dass sie mir niemals auf meine Fragen geantwortet hätte.
Meine Tante hatte mich aufgegeben. Wahrscheinlich schon viel früher, als ich jemals geahnt hatte.
Читать дальше