Am Montag hatten Martin und Kerstin sich zeitig auf den Weg zur Arbeit gemacht. Einen Teil der Strecke konnten sie gemeinsam fahren, bis Martin Richtung Bahnhof abbog, um den Zug nach Nürnberg zu nehmen, und Kerstin weiter ins Stadtzentrum radelte.
Nun saß sie am Schreibtisch, hatte den ersten Stapel abgearbeitet, mit einigen Kunden telefoniert und zwischendurch versucht, jemanden bei der Flugschule zu erreichen. Da hatte sich aber nur eine Mailbox gemeldet: »Ich bin gerade in der Luft und kann den Anruf nicht persönlich entgegen nehmen, melde mich aber gerne zurück, wenn ich wieder am Boden bin.«
Kurz vor Mittag klingelte endlich Kerstins Handy. »Flugschule Fränkische Schweiz, Rudi Frantz am Apparat. Sie hatten versucht, mich zu erreichen?«
»Ja. Danke, dass Sie zurückrufen. Mein Name ist Kerstin Frei und ich habe einen Gutschein für einen Gastflug bekommen, den ich gerne einlösen möchte. Könnte ich da einen Termin machen?«
»Ja grüß Gott, aber sicher, da sind Sie bei mir genau richtig. Wann soll es denn in die Luft gehen? Sind Sie schon mal geflogen? Und wollen Sie einfach einen Rundflug oder einen Schnupperflug machen?«, fragte Rudi Frantz zurück.
»Oh, da gibt es einen Unterschied? Moment, ich schaue mal nach.« Kerstin zog ihren Gutschein aus der Tasche. Ihr Gesprächspartner klärte sie in der Zwischenzeit auf: »Bei einem Rundflug können Sie sich ein Ziel in der Gegend aussuchen – zum Beispiel Ihr Haus oder verschiedene Sehenswürdigkeiten der Region – und da fliegt Sie einer unserer Piloten hin.«
»Und ein Schnupperflug?«
»Ist etwas teurer. Da fliegen Sie auf jeden Fall mit einem unserer Fluglehrer, können auch selbst etwas steuern und lernen das Flugzeug besser kennen. Ideal, wenn Sie überlegen, einen Flugschein zu machen, aber noch nicht wissen, welchen. Da muss man aber etwas mehr Zeit mitbringen, wir rechnen etwa eine Stunde am Boden und eine Stunde in der Luft.«
Kerstin hatte inzwischen den Gutschein hervorgekramt. »Also, meine Familie hat mir einen ‚Schnupperflug‘ geschenkt. Geflogen bin ich schon mal. Segelflugzeuge. Ist aber lange her.«
Rudi lachte: »Na prima. Dann also ein Schnupperflug. Wann passt es dir denn? Äh, Ihnen.« Rudi entschuldigte sich, dass er plötzlich auf ‚du‘ umgesprungen war.
»Ist schon in Ordnung. Das ‚Du‘ ist doch üblich unter Piloten und irgendwann im letzten Jahrtausend war ich ja mal einer – fast jedenfalls«, lachte Kerstin und sie fügte hinzu: »Also einfach Kerstin und was den Termin betrifft, passt unter der Woche Nachmittags ab 17 Uhr oder am Wochenende. Könnte ich meine Kinder mitbringen? Die sind am Wochenende wieder da.«
»Hm, lass mal gucken. Du willst sicher nicht ewig warten. Am Wochenende sind wir ziemlich ausgebucht. Aber am Donnerstag hätte ich noch eine C42 frei. Ab 17 Uhr, zwei Stunden mit meiner Hanne. Und Kinder haben hier in der Regel eine Menge Spaß. Klar können sie mitkommen. Aber in den Flieger passen sie nicht mit rein, das ist ein Zweisitzer.«
Kerstin lachte, schaute in ihren Kalender und bestätigte den Termin. »Das passt prima. Danke. Dann also bis Donnerstag, Rudi.«
Sie freute sich wie ein Kind in der Vorweihnachtszeit. Einen Flugschein wollte sie natürlich nicht machen. Wann denn und von welchem Geld? Aber dass sie mit Fluglehrer fliegen und selbst würde steuern dürfen, das war wirklich spitze.
Nach dem Mittagessen war Team-Meeting. Danach hatte sie den Termin mit Hans. Sie hörte sich an, was er an Argumenten aufzählte und sagte dann vollkommen entspannt: »Also, meinetwegen kann Jule gerne bei meinem Projekt mitmachen. Ich kann sie einarbeiten. Und dann kann sie ohne Probleme während meines Urlaubs die Kunden übernehmen, wenn was anfällt.«
Hans war überrascht, weil er Kerstin nun schon einige Jahre kannte und nach ihrer ersten Reaktion mit Widerstand gerechnet hatte. Er freute sich und sagte: »Na prima, dann ist das ja geklärt.«
Kerstin fügte jedoch noch hinzu: »Dafür kriege ich diesen Herbst das Projekt mit Fix Pharma. Dann habe ich ja genügend Puffer. Und zur Not kann ich dann wieder Jule hinzuziehen, nicht wahr?«
Hans verzog kurz den Mund und überlegte. »Alles klar, das kriegst du hin«, gestand er ihr zu. Das war also auch geklärt.
Die nächsten Tage arbeitete Kerstin länger als sonst und häufte einige Überstunden für Notfälle an. Jule war schnell ins Projekt eingearbeitet und sie kamen gut voran. Trotzdem verging Kerstin die Zeit viel zu langsam. Sie war immer noch aufgeregt wie ein kleines Kind.
Dann war endlich Donnerstag. Martin war früher von der Arbeit gekommen, um mit zum Flugplatz zu fahren. Jonas hatte erst keine Lust gehabt, war dann aber doch mitgekommen. Am Flugplatz angekommen, machten sie sich auf die Suche nach der Flugschule. Zum Glück war der Weg gut ausgeschildert. Vor einer Absperrung blieben sie stehen und überlegten, ob sie einfach durch das Tor auf das Flugfeld gehen durften. Vor einigen Jahren waren sie ab und zu mal hier im Café des Flugplatzes gewesen und hatten mit den Kindern die Flugzeuge beobachtet. Inzwischen hatte sich jedoch alles ein wenig verändert. Aber das Café von damals war noch immer da, auch wenn es einen neuen Namen hatte. An die Flugschule konnte Kerstin sich nicht mehr erinnern, die war ihr nie aufgefallen. Vielleicht war sie auch neu.
Eine Frau winkte und kam ihnen entgegen. Kerstin schätzte sie auf Mitte dreißig. Als sie bei Kerstin und ihrer Familie ankam, warf sie ihre dunklen Locken nach hinten und streckte ihnen lachend die Hand entgegen: »Seid ihr die Familie Frei? Ich bin Hanne.«
»Ja, ich bin Kerstin. Das sind mein Mann Martin und unser Sohn Jonas. Freut mich.«
Hanne schüttelte allen die Hände. Dann führte sie die Familie an den Flugzeughallen entlang in den Vorbereitungsraum der Flugschule. Dort stand ein großer Tisch mit Stühlen, in der Ecke war eine kleine Küchenzeile und an der Wand hingen Poster mit Flugzeugen und beeindruckenden Luftaufnahmen. Außerdem gab es eine weiße Tafel. Darauf standen Buchstabenkombinationen wie MI, AW oder LE sowie Namen und Uhrzeiten. Unter »MI« stand »Kerstin Frei/Hanne Schnupperflug«.
»Mama, da steht dein Name«, bemerkte Jonas.
Hanne klärte ihn auf: »Ja. Hier am Whiteboard vermerken wir, wer wann mit welchem Flugzeug fliegt. Gerade fliegt unser Werner mit der Lima-Echo, unsere große Maschine. Mein Vater, der Rudi, ist mit der Alfa-Whiskey unterwegs und die Mike-India ist auch gerade noch in der Luft.«
Jonas sah sie fragend an. Hanne lachte und erklärte: »Das sind die Kennzeichen der Flugzeuge im internationalen Alphabet. A ist ‚Alfa‘, W ist ‚Whiskey‘. Damit wir nicht immer das ganze Kennzeichen nennen müssen, kürzen wir es bis auf die letzten beiden Buchstaben ab. ‚Mike-India‘, ‚Alfa-Whiskey‘ und so weiter.«
»Aha«, machte Jonas.
»Keine Sorge. Das lernt man mit der Zeit, wenn man mit der Fliegerei zu tun hat. Wollt ihr eigentlich etwas trinken? Kaffee, Wasser, Schorle?«
»Wasser wäre prima«, antwortete Kerstin.
»Habt ihr auch Cola?«, fragte Jonas. Hanne schüttelte den Kopf. Also nahm er wie seine Eltern ein Glas Wasser. Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch.
»Kommen wir zu dir, Kerstin. Mein Vater meinte, du wärst Segelfliegerin?«, fragte Hanne.
Die wiegte den Kopf: »Jein.« Und dann erzählte sie kurz ihre Geschichte.
»Okay«, erwiderte Hanne. »Trotzdem muss ich dann nicht bei null anfangen. Wir haben heute nur die Mike-India frei. Das ist aber perfekt, sie ist ein doppelsitziges Ultraleichtflugzeug, das ziemlich gutmütig ist.«
Hanne trank etwas Kaffee und fuhr dann fort: »Um Start und Landung kümmere ich mich. Du kannst dann in der Luft gerne mal übernehmen. Wir müssen die Augen offen halten und aufpassen, dass wir nicht in die Kontrollzone vom Flughafen Nürnberg kommen.«
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