Mehr zur Aussprache muss man eigentlich nicht wissen, denn die Rödnbacher gehören allesamt zu der überwiegenden Gruppe der Franken, die beim Balanceakt zwischen dem urwüchsigen Dialekt und dem Hochdeutschen einen Mittelweg bevorzugen. Sie sprechen also mehr oder weniger ein fernsehtaugliches Fränkisch, vergleichbar mit dem Ohnsorg-Platt, dem Millowitsch-Köllsch und dem Komödienstadl-Bayrisch. Es bleibt ihnen schon gar nichts anderes übrig, wenn sie von Außenstehenden verstanden werden wollen.
Handelnde Personen
Peter Kleinlein |
Rödnbacher, Hobbydetektiv und Dekorateur |
Marga Kleinlein |
seine Ehefrau, ein wahrer Engel, nicht nur an Weihnachten |
Simon Bräunlein |
Metzgermeister aus Rödnbach, Hersteller der 1A preisgekrönten Bratwurst |
Gisela Bräunlein |
Seine Ehefrau, das Gehirn des Familienbetriebes |
Patrick Bräunlein |
Sohn der beiden, Lehrling |
Lothar Schwarm |
Friseurmeister aus Rödnbach, sehr sensibel, äußerst gepflegte Erscheinung |
Maria Leimer |
Besitzerin eines Kosmetik- und Nagelstudios und Lebensgefährtin von Lothar |
Willibald Stiegler |
Dorfpfarrer, gutmütig, aber nicht dumm |
Erwin Schindler |
Kriminalhauptkommissar |
Heinz Havranek |
Kriminalobermeister |
Thomas Heyder |
Zahnarzt, jähzornig und uneinsichtig |
Sigrun Heyder |
Seine Frau |
Jan Heyder |
Der vermisste Sohn der beiden |
Ella Schwarzer |
Nachbarin der Familie Heyder und gute Beobachterin |
Sabra al-RahmaniSabra=die glückliche, |
Freundin von Jan und Tochter von Yusuf und Marjam |
Yusuf und Marjam al-Rahmani |
Eltern von Sabra, syrisch-christliches Flüchtlingspaar |
Barbara Reinwald |
Gemeindereferentin |
Helfried Sommer |
Waldläufer, das grüne Gewissen von Röthenbach |
Hildegard Sommer |
Schwägerin und Erzfeindin von Helfried |
Felix Wittmann |
Freund von Jan Heyder |
Erna Wittmann |
Beistzerin eines Tante-Emma-Ladens und Oma von Felix |
Gottfried Seidl |
Redakteur der Kirchenzeitung |
Markus „Marek“ Powolny |
„Geschäftsmann“ aus Eger |
Gerhard Popp |
Ein einsamer Wolf |
Hinter Schloss und Riegel
Reiss ab vom Himmel Tor und Tür,
reiss ab, wo Schloss und Riegel für!
(aus ‚Oh Heiland reiß die Himmel auf!“)
Eigentlich hätte er sich keine ungünstigere Jahreszeit für sein Vorhaben aussuchen können. Bald würde draußen Schnee liegen, es war kalt, zwar noch nicht so sehr wie zur selben Zeit in den letzten Jahren, aber ohne einen warmen Wintermantel und feste Stiefel würde er erbärmlich frieren. Es würde nicht einfach werden. Natürlich nicht. Das hatte er auch nicht erwartet.
Aber einfach war es für ihn schon seit fast drei Jahren nicht mehr, seit man ihn hierher gebracht und ihn von der Außenwelt abgetrennt, auf wenigen Quadratmetern wie ein gefährliches Tier in einem Zwinger hielt, sorgsam abgeschottet von jeglicher Form der Freiheit. Er bekam zu Essen und zu Trinken, hatte sogar einen kleinen Fernsehapparat für die schwierigen Momente, in denen die Einsamkeit zu groß wurde, aber er hatte keine Möglichkeit, seinen Neigungen nachzugehen, die Natur zu genießen, mit Freunden einen unterhaltsamen Abend zu verbringen, nichts von alledem, was sein Leben einst so lebenswert gemacht hatte. Einst! Es war gerade mal ein paar Jahre her und fühlte sich doch wie eine Ewigkeit an. Er war gänzlich in der Hand einer fremden Macht, die jeden seiner Schritte bestimmen konnte, von deren Wohlwollen selbst die winzigste Verbesserung seines Daseins abhing. Er war auf der Stufe des einsamen Wolfs im Nürnberger Tiergarten angelangt, den er einst fasziniert und betroffen zugleich beobachtet hatte, wie der schier endlos in seinem Käfig von links nach rechts und wieder zurück schnürte, immer auf dem gleichen schmalen, ausgetretenen Pfad, vorbei an den gaffenden Besuchern, den Blick gebrochen nach unten gerichtet, stundenlang. Immer die gleiche Schleife, eine flache Acht nach der anderen. Seiner wahren Natur beraubt. So wie er in diesem Augenblick.
Er musste hier raus. Musste wieder freie Luft atmen, seinen Tagesablauf selbst bestimmen, ins Leben zurückkehren. Er hatte sich einen perfekten Plan zurechtgelegt. In zahllosen langen Nächten durchkalkuliert, bis ins kleineste Detail durchdacht, alle Unwägbarkeiten durchgespielt und sich für jede mögliche Überraschung die geeignete Reaktion eingeprägt, unverrückbar eingebrannt. Es würde funktionieren. Es musste! Er musste nur noch etwas warten können bis die Umstände seinem Vorhaben entgegen kamen. Geduld! Eine Eigenschaft, die noch nie zu seinen Stärken gehört hatte. Aber er konnte es sich nicht aussuchen, er musste die Gelegenheit nutzen, wenn sie sich ihm bot. Bis dahin hieß es, aufmerksam sein und warten, auf die Chance lauern.
Weihnachtliche Vorfreude
Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen,
wie glänzt er festlich lieb und mild
(Deutsches Weihnachtslied, 1871)
Die Sonne scheint mild, viel zu mild für Mitte November. Nur wenige winzige Wölkchen störten den Eindruck eines sonst makellos blauen Himmels. Die Temperaturen sind für die Jahreszeit viel zu hoch, geradezu angenehme acht Grad Celsius zeigt das Thermometer neben dem Küchenfenster der Kleinleins. Peter, der Hausherr, sitzt, die aufgeschlagene Zeitung vor sich, am Küchentisch und arbeitet sich mühsam durch jeden einzelnen Artikel, angefangen von den deprimierenden Nachrichten aus der hohen Politik, den ebenso erschreckenden Berichten aus der großen weiten Welt, über Kriege und Terror hin zu den lächerlich dekadenten Skandalen der Reichen und Schönen. Er verweilt etwas länger beim ausführlichen Sportteil mit den jüngsten Wasserstandsmeldungen aus dem Lager des 1.FC Nürnberg, die größtenteils, wie in letzter Zeit so oft, aus verzweifelten Durchhalteparolen bestehen. Er überfliegt die Seite mit den Familienanzeigen, die sowohl die Abschnitte betreffend Partnersuche, Geburten, Todesnachrichten, als auch die Eheschließungen friedlich in ein und derselben Rubrik vereint. Ja, sogar die wenigen noch vorhandenen Stellenangebote lässt er nicht aus, obwohl er als Rentner damit nichts mehr am Hut haben müsste. Selbst ein zufällig dazukommender, neutraler Beobachter würde sofort erkennen: Dem Mann ist stinklangweilig.
Die letzten Arbeiten im Garten sind seit einiger Zeit abgeschlossen, die empfindlichen Pflanzen bereits in den Keller verfrachtet, die Rosen fein säuberlich abgedeckt, das Laub zusammengerecht und entfernt. An dieser Front gibt es für längere Zeit nichts mehr zu tun. Selbst das in liebevoller Kleinarbeit eigenhändig gebastelte, geräumige Vogelhäuschen ist schon aufgehängt, dieses Jahr an einer Stelle, wo die Nachstellungen der feisten Nachbarskatze keinen Erfolg mehr versprechen, jedenfalls nicht ohne eine zirkusreife Luftakrobatiknummer zu riskieren. In den letzten Jahren hatten auch die Eichhörnchen den Vögeln das ausgelegte Futter streitig gemacht und oft stundenlang die Verpflegungsstation blockiert, was Peter Anlass gab, seine Kreativität im Zuge eines groß angelegten Rettungsplanes einzusetzen. Um dieser Zweckentfremdung ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben, hatte Peter schließlich in einer halsbrecherischen Aktion ein langes, aber reichlich dünnes Seil an einem weit ausladenden Ast des uralten Apfelbaumes befestigt und an dessen Ende in etwa eineinhalb Metern Höhe, in der Luft schwebend, das hölzerne Futterhäuschen aufgehängt. Wer hinein will, muss entweder fliegen oder einen halsbrecherischen Versuch unternehmen, an der dünnen Schnur herunter zu klettern. Peter war sehr zufrieden mit sich und seiner Leistung. Damit sollten seine gefiederten Lieblinge vor dem gierigen Kater der Seibolds, seiner Nachbarn zu Rechten, sicher sein. Was die Eichkätzchen betraf, hatte er noch so seine Zweifel. Man musste abwarten, welches Ausmaß an Risikobereitschaft der unvermeidliche Hunger während der kalten Jahreszeit bei diesen niedlichen, aber durchsetzungsfähigen Kletterkünstlern hervor bringen würde.
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