Ich berühre nichts, sagte Marlene mit jedem Schritt. Ich halte nichts fest. Einmal hatte sie eine Freundin besucht, es war ein Feiertag. Marlenes Freundin und ihr Mann hatten sich Turnschuhe angezogen und einen Waldlauf gemacht, nur Tina war noch da, die fünfjährige Tochter. Sie kniete vor dem Wohnzimmerglastisch, beugte ihren Kopf über kariertes Papier, ihre Hand umklammerte einen grünen Buntstift, ihre Locken verhängten ihr Gesicht, sie malte ein schiefes Osterei, legte den Stift aus der Hand und wählte einen roten, punktete und strichelte, lehnte sich zurück, um ihr Werk zu betrachten. Plötzlich sah sie hoch, zu Marlene, die auf dem Sofa saß, dem Kind zuschaute, rauchte, die Zeitschrift auf ihrem Schoß ungelesen.
"Liebst Du irgendwen?“, fragte Tina und ihre Augen waren riesig, blau und tief.
Das war keine der üblichen Fragen, auf die man dies und das antworten konnte, jedenfalls Marlene nicht. Eine ehrliche Antwort konnte und wollte sie nicht geben, sie fragte zurück: "Wen liebst Du denn?"
Tina punktete noch mehr rote Flecken in das grüne Osterei und erzählte von Petra, ihrer Freundin aus dem Kindergarten, von Olaf, von ihrer Mama, von ihrer Puppe und von ihrer Lieblingshose. Erst einen Tag später, auf der Autobahn, hatte Marlene sich Tinas Frage erneut gestellt. "Ich liebe niemanden." Was für eine scheußliche Antwort, schlimmer als ein Aspirin, das sich vorzeitig im Mund auflöst. Da hatte Marlene noch ein Auto gehabt, jetzt nicht mehr.
Marlene hob die Augen vom Straßenpflaster, zog die Blicke von den Schaufensterauslagen ab, lenkte sie auf die Passanten. Lieferanten, Gammlern und Geschäftsleute, Alte und Mittelalte strömten an ihr vorbei, Gleichgültigkeit im Gesicht, Erstaunen, Erschrecken, Ausweichen, Langeweile, Desinteresse. Zurückweisung. Ein Zwinkern. Ein Lächeln, eine angeekelte Grimasse. Wie gut, dass Marlene lief und alles wieder wegrutschte. Die grünen, braunen, blauen, grauen Augen. Unter Ponys, Glatzen, Hüten, Locken. War sie die einzige ohne roten Faden? Wussten die anderen alle, wohin sie wollten, woher sie kamen und wo sie morgen sein würden? Marlene lehnte sich an eine Schaufensterscheibe.
Sie wühlte in ihrer Handtasche nach der Zigarettenschachtel, führte einen Stängel zum Mund, das Feuerzeug flammte auf, und noch immer strömten die Passanten, aber jetzt waren sie etwas weiter weg.
Das war die letzte. Marlene knüllte die Schachtel zusammen und warf sie in einen grünen Mülleimer. Am besten schmiss sie ihr restliches Geld auch noch hinterher. Oder auch gleich die Wohnungsschlüssel. Das war dann fast eine Reise in ein fremdes Land. Marlene hielt ihr Portemonnaie fest. Bin ich verrückt? Ich bin eine Verliererin ohne Handlungsmacht.
Wenn sie einen Schwanz gehabt hätte, er wäre eingekniffen, so wie Marlene jetzt nach Hause zurückschlich, am frühen Vormittag, ein Gefangener, der freiwillig ins Gefängnis zurückkehrte, zu lange in Haft, er fand sich im fremden Draußen nicht mehr zurecht. Die Zeiten waren andere geworden, die Werte auch, es zählten andere Kräfte, es sind Erfindungen gemacht worden, von denen er keine Ahnung hatte und Marlene auch nicht.
Auf dem Rückweg kam sie an ihrem Tabakladen vorbei, lieber gleich noch ein Päckchen Zigaretten kaufen, damit sie ihren Adlerhorst heute auf keinen Fall mehr verlassen musste. Die dicke Frau hinter dem Tresen lächelte, man kannte sich seit Jahren.
„Oh,“ sagte Marlene, „Sie waren beim Friseur!“ Sie arbeitete sich durch eine Unterhaltung über den Sinn und Unsinn von Frisuren. Entweder eine akkurate Kurzhaarfrisur oder langes, glattes Haar, nur nicht jeden Morgen vor dem Spiegel stehen und föhnen, einlegen und frisieren, fand die Tabaks-Frau.
„Sie hätten auch die Zeit nicht,“ sagte Marlene, als sei das ein gewichtiges Problem, „Sie stehen jeden Morgen um halb fünf auf."
Ich hätte die Zeit, dachte sie, Turmfrisuren könnte ich bauen bis in den Himmel, aber was habe ich davon, mit dem Ding auf dem Kopf vor dem Spiegel zu sitzen. Sie griff nach der ZEIT, wenigstens viel zu lesen, lieber nicht den Tag entlang sehen, lieber nicht.
Zuhause zog sie die schöne Hose aus, die alte Leggins an, schloss die Tür ab. Die Katze lag auf ihrem Sessel, eine Katzenkugel, sie hob den Kopf nicht einmal, sie träumte mit zitternden Barthaaren.
Marlene setzte sich neben den Sessel auf den Boden, schlug die Zeitung von hinten auf, kleine überflüssige Texte, nichts Bedrohliches, und ehe sie es sich eingestand, studierte sie die Kontaktanzeigen, große, wortreiche Kontaktanzeigen von Männern Anfang fünfzig, erfolgreich, kosmopolitisch, hedonistisch. So einen müsste man haben, einen, der genug Geld hat, um sich einen Schmetterling zu leisten, einen schönen Schmetterling wie sie, das wäre die Lösung. Marlene hatte einmal auf so eine Anzeige geantwortet. Drei Wochen hatte sie von der Antwort geträumt, so wie man träumt, wenn man einen Lottoschein ausgefüllt hat. Aber es war keine Antwort gekommen, und das war schlimmer, als die falschen Zahlen angekreuzt zu haben: Irgendein Mann, irgendwo in Deutschland, ein reicher, einflussreicher, erfolgreicher Mann hatte sie gewogen und für zu leicht befunden, sie nicht einmal für wertgehalten, ihr eine Absage zu erteilen, das tat weh. "Ich kotze mich dermaßen an!“, sagte Marlene laut.
Sie ließ die Zeitung sinken. Es war auch falsch, die Anzeige eines Mannes zu beantworten, das war schon biologisch falsch. Ein Mann musste sich um eine Frau bewerben, nicht umgekehrt. Marlene angelte nach einem Stift und einem Block. "Wir fordern das Unmögliche, Katze", sagte sie, "sonst macht es keinen Spaß". Sie schrieb : Schöne Frau sucht Millionär, 38, 1,75, tänzerisch, gepflegt. Bitte mit Bild. Zwei Zeilen, einspaltig, siebenundneunzig Euro. Das gab das Konto zwar nicht mehr her, aber die Kreditkarte. Und was im nächsten Monat war, wer wusste das schon.
Marlene riss das Formular aus der Zeitung, füllte Buchstabenkästchen aus, trug ihre Adresse ein, beschriftet einen Briefumschlag. Wenn ich es heute abschicke, könnte die Anzeige nächste Woche in der Zeitung sein, vielleicht übernächste. Heute abschicken bedeutete: Aufstehen, wieder anziehen, wieder die Treppe herunter, zur Bank, mit der Kreditkarte einen Hunderter abzapfen, direkt in den Briefumschlag legen, sollen die in der Anzeigenabteilung doch sehen, wie sie das Geld verbuchen. Einen Scheck konnte Marlene nicht beilegen, den hätte die Bank nicht eingelöst.
Montagnachmittag bei der alten Dame. Obwohl Marlene jetzt schon ein Jahr zu ihr ging, waren sie immer noch beim Sie. Am Anfang überhörte Marlene geflissentlich, wenn sich die alte Dame vertat und sie duzte. Sie überhörte es, weil die alte Dame trank. Sie schwankte, wenn sie die Tür öffnete, während sich der Schäferhund an ihren knochigen, alten Beinen vorbei drängte, der schlecht erzogene Schäferhund, viel zu jung und zu stark für so eine alte Frau. Sie roch aus dem Mund nach Likör, taumelte vor Marlene her ins Wohnzimmer und sank in ihren Stammsessel vor dem Fernseher.
Sie nuschelte: "Wenn ich meinen Hund nicht hätte."
Dabei hatte sie alles. Zwei Söhne. Ihr Mann war Chefarzt gewesen. Über fünftausend Euro Rente im Monat, Marlene hatte es auf einem Kontoauszug gesehen. Aber sie liebte Bargeld. Einmal zog sie sechs Tausend-Euro-Scheine aus dem Portemonnaie und Marlene erschrak. "Ich will mir was kaufen können", hatte die alte Dame geschnappt. Aber sie kaufte sich nichts. Marlene hatte den Verdacht, dass sie mit der EC-Karte nicht zurechtkam oder ihr nicht traute. Sie hatte überlegt, ob sie dem Sohn davon erzählen sollte, aber sie tat es nicht. Die alte Dame hätte es nicht ertragen, nicht allein über ihr Geld verfügen zu können. Marlene fragte: "Warum geben Sie das Geld nicht aus? Sie könnten jeden Abend mit einem Taxi ins Theater fahren, direkt in die erste Reihe." Aber die alte Dame war nie ins Theater gegangen, ihr Mann musste doch immer arbeiten, sie hatte nicht einmal viel gelesen, nur ein einziges Buch. Die Caine war ihr Schicksal.
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