„Das verstehe ich natürlich. Ich dachte nur, dass Sie es vielleicht interessiert, dass Sie nicht die Einzigen sind. Es passiert überall. Ich bin Journalist und sehe mich in der Pflicht, Informationen zu überprüfen. Das ist der Grund meines Anrufs. Können Sie mir vielleicht einen Tipp geben, wie sich die Richtigkeit der Informationen bestätigen lässt?“ Der Mann schenkte seiner Frage keinerlei Beachtung.
„Es passiert überall? Was meinen Sie damit?“
„Ich habe das gleiche Muster in Moskau und Tokyo beobachten können.“ Dass er auch dort keine Auskunft von den örtlichen Behörden bekam, verschwieg Chen.
„Okay…“, seufzte der Mann, „Sie sollten vielleicht noch meinen Namen erfahren. Ich bin Dr. Markus Gideon und der Chefvirologe hier. Ich kann Ihnen keine Namen nennen und darf Ihnen auch nichts Genaueres sagen. Was ich Ihnen aber mitteilen darf ist, dass die Information stimmt. Wir haben einen untypischen Anstieg der Totenzahl. Das wird aber Zufall sein und ist kein Grund für weitere Verschwörungstheorien. Bitte seien Sie sich ihrer Verantwortung bewusst. Die Bevölkerung ist sensibel geworden, nach alldem was die letzten Jahrzehnte passiert ist.“
„Deswegen versuche ich, meine Informationen erst gründlich zu recherchieren, bevor ich sie veröffentliche.“
„Das ist gut, Mr. Hyuga, sehr gut. Ich schlage vor, Sie machen weiter, auch wenn Sie damit ins Leere laufen werden. Ich hätte eine Bitte: Bevor Sie doch etwas veröffentlichen, rufen Sie mich an. Meine Nummer ist die 0175 9976360. Sie wissen schon, damit ich Ihnen ins Gewissen reden kann.“ Die letzten Worte hüllte er in übertriebenen Sarkasmus. Obwohl Dr. Gideon gerade ihn selbst und seine Profession angegriffen hatte, hegte Chen keinerlei Groll gegen ihn, im Gegenteil. Die Art und Weise wie der Mann redete, gefiel ihm. Skepsis gegenüber Journalisten war ihm nicht fremd, er selbst war einer der größten Kritiker seiner Gilde und mit Gideon einen neuen Kontakt in der Welt der Medizin zu besitzen, war das Beste, was ihm hätte passieren können. Also galt es, die Kritik nicht persönlich zu nehmen.
„Ja, das werde ich tun, Dr. Gideon. Ich hoffe, Ihnen ist bewusst, dass ich Ihnen ab sofort hin und wieder auf die Nerven gehen werde.“
„Tja, einen Tod muss man sterben“, erwiderte der Doktor. Seine Stimme war von der Besorgnis gänzlich befreit.
„Gut, danke für Ihre Zeit… Ach, eine letzte Sache noch: Woran sind die Patienten gestorben?“.
„Ah, Mr. Hyuga, auch das darf ich Ihnen im Moment nicht sagen.“
„Schade, ich komme darauf zurück. Schönen Tag wünsche ich Ihnen.“
„Ihnen auch.“
Heute wusste Chen, dass Gideons „das darf ich Ihnen nicht sagen“ in Wahrheit ein „das kann ich Ihnen nicht sagen“ war, nur ein Wort Unterschied, nicht viel numerisch gesehen, doch die Bedeutung veränderte sich damit kritisch. Später erzählte ihm Gideon, dass er nach diesem Anruf noch einige Zeit im Büro saß und grübelte; Grübelte so lange, bis es ihm im Kopf ganz schwer geworden war und er sich einen Kaffee holen musste, um auf andere Gedanken zu kommen.
Chen indes stellte die Geschichte noch am selben Abend dem zuständigen Redakteur vor. Sein Vortrag war aggressiv, befeuert von Faszination, Eifer und dem Gedanken, etwas Wichtigem auf der Spur zu sein. So groß sein Enthusiasmus auch war, so groß war der Widerstand, auf den er traf. Es war wie damals in der Schule, sogar die Wortwahl ähnelte einer Kopie der Vergangenheit: Er solle sich zunächst auf die Aufgaben beschränken, die ihm zugewiesen worden waren. Außerdem baue sich seine Story auf waghalsigen Vermutungen und Hirngespinsten auf.
Ernüchtert fand sich Chen am selben Abend in seinem kleinen Appartement wieder, allein mit einer Flasche Sake und einem Mobiltelefon. Nachdem er stundenlang auf diversen Social-Media-Plattformen verbracht hatte, wollte er gerade zu Bett gehen, als die Coro App wieder vor seinen Augen auftauchte. Eigentlich war ihm die Laune nach weiterer Recherche gründlich vergangen, doch die Neugierde peitschte ihn voran. Er öffnete die Applikation und stellte mit Begeisterung fest, dass sich seine Beobachtung mehr und mehr zu einem Trend entwickelte. Nun schienen auch Berlin und Amsterdam betroffen zu sein, die Zahlen waren zwar nur leicht gestiegen, doch fielen sie definitiv aus der Norm. ‚Zum Teufel mit denen!‘, war sein Gedanke, während er versuchte einzuschlafen. Er würde es auf eigene Faust versuchen, wollte weiter daran arbeiten, auch wenn er es neben seinen Pflichten tun musste, denn sicher würde er es bereuen, wenn er diese Sache einfach liegen ließ.
Auf seiner Isomatte liegend legte Chen den Notizzettel weg und blätterte durch die ausgeschnittenen Zeitungsartikel. Keine zwei Tage nach dem Pitch der Story bei der Shima Shinbun erschien die erste Schlagzeile in einer Ausgabe der britischen ‚Sun’.
Globales Massensterben - Mediziner stehen vor Rätsel
Chen wurde noch am selben Tag zu demselben Redakteur gerufen, der ihn vor kurzer Zeit so schroff zur Zurückhaltung ermahnt hatte. Er solle seine Informationen teilen; Chen und ein Team aus vier Journalisten würden an der Sache weiterarbeiten und das unter der Leitung des Chefredakteurs höchstpersönlich. Sie verschanzten sich in einem Raum ohne Fenster und arbeiteten pausenlos, Stunde um Stunde. Als es Abend wurde, hatte Chen weder gegessen noch getrunken, sich aber alle aktuellen Artikel der Sache angesehen, sich durch mehrere spirituelle Blogs gekämpft, die reihenweise das Ende der Welt vorhersagten, und dutzende Telefonate mit Experten geführt. Die Hälfte von denen konnte ihm nichts zum Thema sagen, versuchte aber, ihn im Gespräch gefangen zu halten, um die Aufmerksamkeit zu spüren, die sie sich wünschten. Es war ihm lästig, doch wie so oft verbat es ihm die Höflichkeit, einfach aufzulegen. Eine schlechte Angewohnheit für einen Journalisten, zweifellos, aber es fiel ihm schwer, sie abzuschütteln.
Als er den Zeitungsartikel der ‚Sun’ zurück in die Schachtel legte, spürte Chen die Übelkeit in sich hochsteigen. Er hielt seine Hand in die Waagerechte und sah ihr beim Zittern zu. Der Jutebeutel mit den vielen Kostbarkeiten befand sich immer noch vor dem Krämerladen im Tal, wartete auf ihn, rief nach ihm. Doch dazwischen lag ein erneuter Abstieg hinab in das Dorf – was nach wie vor ein großes Risiko darstellte. Wenn er es wagte, dann müsste er jetzt aufbrechen, oder die Dunkelheit würde ihn einholen – und die Nächte in seinem Wald waren zuweilen ganz besonders unbarmherzig.
„Vielleicht warnt mich Milan ja diesmal wirklich.“ Chen grinste, versuchte sich Mut zu machen, stand auf und hüpfte ein paar Mal auf der Stelle. Es hieß, wenn man nur lang genug grinste, dann käme der Mut und die Freude von allein. Er wusste, dass das nicht stimmte. Man musste nur lange genug allein sein, lange genug einsam sein, dann verlor die Praktik ihre Wirkung. Dann konnte man im Stillen fröhlich vor sich hin grinsen und die Schwärze auf der Seele blieb die Gleiche.
Doch hatte sich seine Situation verändert. Als er vor ein paar Stunden hinab ins Dorf stieg, da war seine größte Furcht, einem von ihnen zu begegnen. Nun war es geschehen. Er hatte es erlebt, viel mehr sogar überlebt. Jetzt, da es ihm nicht mehr gänzlich fremd war, hatte es an Schreckenskraft verloren. Nur das ‚warum’, das stand immer noch im Raum und verlangte nach einer Antwort. Doch wenn er jetzt verhungerte, könnte er eben diese Antwort so oder so nie finden. Also los.
Er ließ den Bogen zurück. Es war pures Glück gewesen, dass er bei der Flucht nicht zu Bruch gegangen war. Lediglich die Pfeile hatte es aus seinem Köcher in die Schlucht geschleudert. Ein weiterer Grund, der ihn hinab in das Tal zwang.
Als er einige Zeit später den Yukon überquerte, fühlte sich sein Leben irgendwie leichter an als sonst. Er musste sich dazu ermahnen, dass es wohl nur Zufall gewesen war, dass er sich nicht darauf verlassen sollte, dass es einem Wunder gleichkam und er, Chen, eine weitere Begegnung sicher nicht überleben würde. Doch aus irgendeinem Grund ließ ihn diese Vorstellung nicht mehr los. Er war unbeschwerter, ein kleines bisschen freier, während er allein den Wald durchquerte und auf die offene Ebene zusteuerte. Spätestens hier kündigte sich an anderen Tagen ein Gefühl der Bedrohung an und die Angst vor dem lauernden Tod begann in ihm aufzusteigen, dass es ihm die Eingeweide zusammenzog. Doch heute blieb sie aus. Oder besser: Sie schien leiser geworden zu sein, wie ein Mensch, der durch einen schweren Vorhang hindurch mit einem sprach.
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