Nach einer Weile fixierte er gleichzeitig Bogen und Pfeil mit der linken, um der angespannten rechten Hand eine Pause zu gewähren. Er begann mit dem Zeigefinger im Dreck herumzustochern. Der Boden war feucht vom Tau der Nacht, doch es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet und grub man etwas tiefer, wurde die Erde staubig, sodass man Formen darin zeichnen konnte, wie beim Spiel im Sand. Er griff nach einer Eichel und trennte die Frucht vom hölzernen Hut. Mit seinem Daumennagel versuchte er die Nuss zu knacken. Vergebens. Sie machte keine Anstalten ihre schützende Hülle aufzugeben und ihr Fruchtfleisch zu offenbaren. Er würde beide Hände dafür brauchen. Wohl eher beide Hände und einen Stein. Das würde dann Geräusche machen. Aber Stille war das Gebot der Stunde.
Die Sonne hatte sich jetzt endgültig über dem Horizont erhoben. Dort, wo sie nicht von Bäumen oder Hügeln unterbrochen wurde, trafen ihre Strahlen auf das Gras und ließen den feuchten Tau hübsch glitzern. Es war eine malerische Landschaft, geradezu paradiesisch, doch Chen hatte schon lange den Blick dafür verloren. Zu oft war er hier gelegen und hatte den immer gleichen Sonnenaufgang beobachtet. Zwar glich kein Tag dem nächsten, aber die Unterschiede wurden zuweilen immer kleiner.
Jedoch erhielt einer dieser Unterschiede soeben Chens volle Aufmerksamkeit. Sie bewegten sich in einer Gruppe aus fünf. Er ging voran, die Frauen folgten ihm. Eines von ihnen war noch ein Kalb. Sie waren der Grund, warum Chen noch vor Sonnenaufgang aufgestanden und einen langen Fußmarsch in Kauf genommen hatte. Die Rehe setzten jeden Schritt mit Bedacht, während sie auf offener Fläche nach frischem Gras und saftigen Kräutern suchten. Immer wieder hob der Rehbock den Kopf, dann taten es ihm die Kühe gleich und hörten für einen Moment auf zu kauen. Wenn er dann doch keine Bedrohung witterte, senkte er den Kopf wieder ab und auch die Kühe kauten weiter. Sie passten aufeinander auf. Eine Familie. Chen beneidete sie. Jedes Mal wenn er sie sah, beneidete er sie für das, was sie hatten. Dass sie einander nahe standen. Wörtlich und bildlich. Ob sie wussten, was für ein Glück das war? Dass nur die Tiere verschont blieben? Nein, die Tiere hatten von all dem nichts mitbekommen. Genauso wenig wie die Bäume, die Berge, die Erde, das Universum.
Chen schüttelte die rechte Hand, um sie vom Dreck zu befreien, führte sie zur Sehne und setzte dann mit Zeige- und Mittelfinger oberhalb und mit Ring- und kleinem Finger unterhalb des Pfeils an. Er versuchte seine Atmung auf ein Minimum zu reduzieren und ließ die Augen für keine Sekunde von seinem Ziel abweichen. Er würde wählen müssen. Sich festlegen. Sonst war kein Treffen möglich. Er entschied sich für die Kuh, welche etwas abseits der Herde stand. Sie hatte besonders schönes Fell und wenn die Sonne im richtigen Winkel traf, dann glänzte es wie eine frisch polierte Bronzemünze. Langsam erhob er sich. Millimeter für Millimeter, solange bis er kniete. Er stellte das linke Bein nach vorn, vergrub die Zehen in der Sohle seines Schuhs und war bereit. Es war kein einfacher Schuss, die Distanz eigentlich zu groß, doch er musste treffen, Versagen war keine Option. Nahrung war notwendig, das Fleisch seine letzte Möglichkeit, denn sonst musste er wieder in das Dorf hinabsteigen und das widerstrebte ihm mehr als alles andere. Beim letzten Mal war er zwischen Holz und Häusern vor Angst beinahe verrückt geworden.
Langsam spannte er den Bogen. Seinen linken Arm hielt er dabei ausgestreckt, die Sehne führte er so nah an seine Wange wie möglich. Es kostete ihn eine Menge Kraft diese Position zu halten und die Muskeln in seinem Rücken jammerten, warnten vor Krämpfen und Versagen. Er würde einmal noch Luft holen müssen, bevor er einen Schuss abgeben konnte. Chen stabilisierte seine Körpermitte, schloss die Augen und konnte die Häuser des Dorfes sehen, er dazwischen, irrend, stolpernd, auf ständiger Flucht. Niemals wollte er da wieder hin. Niemals…
Er öffnete die Augen und atmete tief ein. In dem Moment schnellte der Kopf des Rehbocks nach oben. Scheiße! Er hatte ihn bemerkt. Jetzt oder nie! Chen ließ die Sehne los, der Pfeil schnellte durch die Luft, die Metallspitze glitzerte, während sie sich dem Ziel näherte, todbringend oder heilbringend, im Grunde beides zu gleichen Teilen. Doch es war zu spät. Als der Pfeil traf, war da nur noch Erde und kein Fleisch. Chen fluchte, als die Herde schon in Panik davongaloppierte und schließlich einige hundert Meter von ihm entfernt im Wald verschwand. Er schlug mit der Faust auf den Boden.
Es war seine einzige Chance gewesen. Die Sonne stand mittlerweile höher am Himmel und die Rehe würden nicht zurückkehren. Sie waren den Anblick von Menschen nicht mehr gewohnt und deswegen noch scheuer geworden als damals schon. Er hatte seine Chance vertan. Kein Grund mehr leise zu sein. Wohl aber Grund, noch ein weiteres Mal auf den Boden zu schlagen, dass ihm die Faust wehtat und ganz rot wurde.
Der Pfeil. Den würde er wieder brauchen. Widerwillig erhob er sich, rieb sich dabei die schmerzende Hand und ging auf die Stelle zu, an der noch vor wenigen Sekunden die Rehe gegrast hatten. Früher hätte ihm dieser Weg sehr viel Angst bereitet. Von allen Seiten hätte ihm der Tod auflauern können, nur darauf geeicht, ihm die Zeit zu nehmen, die ihm auferlegt war. Heute prüfte er nicht einmal mehr den Horizont. Er war allein hier, verlassen von allem und jedem. Als er nach oben in den Himmel blickte, bemerkte er, dass diese Annahme doch nicht ganz richtig war. Der hatte ihm gerade noch gefehlt!
„War klar, dass du dabei bist, wenn mir so ein Malheur passiert!“ Chen beobachtete den Milan, der über ihm seine Kreise zog. Er gab dem Greifvogel Zeit zu antworten und nickte zustimmend, obwohl es freilich keine Stimme gab, die das Wort an ihn gerichtet hatte.
„Ja, ja, hör bloß auf zu lachen. Du bist auch nicht das Jagdgenie schlechthin!“ Wieder wartete er ab und stellte sich eine Antwort des Tieres vor, auf die er dann reagieren konnte.
„Pff, König der Lüfte, du bist eingebildet geworden!“ Nach dieser doch eher schroffen Spitze stimmte Chen etwas versöhnlichere Töne an.
„Na ja, egal, vergessen wir’s. Wie geht es deiner Familie?“ Wieder wartete er eine Antwort ab, um dann munter weiter mit sich selbst zu reden.
„Schön… Was? Ja, ja bei mir ist alles beim Alten. Ich glaube, ich lasse die Hütte demnächst mal renovieren. Wenn es windet, dann zieht’s und pustet’s bei mir, das ist nicht gut…“, den letzten Nebensatz flüsterte Chen nur noch. Er war mittlerweile bei seinem Pfeil angekommen, die Stelle, an welcher die Rehe gegrast und er ihnen aufgelauert hatte. Doch interessierte ihn sein Eigentum augenblicklich wenig. Kein Geräusch, sondern ein Gefühl hatte ihn stutzig gemacht und ihm einen Schauer über Nacken und Rücken gejagt. Er ging langsam in die Knie, spannte seinen Bogen und fixierte die Waldkante. Er suchte nach der Stelle, an der er vor wenigen Momenten gelegen und im Dreck herumgekratzt hatte. Dort war nichts. Meter für Meter tastete er den Waldrand mit den Augen ab und hielt dabei den Bogen weiterhin gespannt. Er fühlte sich wie ein Kind, das zur Schlafenszeit im Dunkeln ein Monster zu sehen glaubte. Obwohl er es besser wusste, konnte er sich doch nicht gegen das Herzklopfen wehren, genauso wenig wie gegen das Schwitzen, die Übelkeit und den dringenden Wunsch, die Beine in die Hand zu nehmen und davonzurennen. Erst nachdem er sich absolut sicher war, begann er wieder zu reden.
„Ach, ich dachte, mich hätte jemand beobachtet. Nein, bei mir ist alles beim Alten“, murmelte er vor sich hin, weil er sein Gespräch mit Milan so jäh unterbrochen hatte. Er zog den Pfeil aus der Erde und befreite die Spitze vom Schmutz, ehe er ihn zurück in seinen Köcher steckte.
„Obwohl, eigentlich nicht. Ich hab kein Essen mehr. Seit ein paar Tagen schon. Die Kartoffeln sind noch nicht soweit und das hier hast du ja mitbekommen.“ Er deutete auf den Boden.
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