New York City, 538 Grand Street.
Die Grand Street zu finden war einfacher, als ich befürchtet hatte. Mein Plan bestand darin, ins Zentrum der Stadt zu fahren und zu hoffen, dass sich eine Art Automatismus in Gang setzte, der mich wie ein Autopilot in meine Wohngegend führte. Doch dieser Automatismus blieb aus. Hatte ich auf dem Highway ins Zentrum noch ansatzweise das Gefühl, diese Stadt zu kennen, löste sich diese Vertrautheit schnell in nichts auf, als ich von der Schnellstraße abfuhr und mich in Chinatown wiederfand. Ziellos fuhr ich umher, bis ich mir sicher war, das erste Mal in New York zu sein. Nichts, rein gar nichts, kam mir auch nur im Entferntesten bekannt vor. Dennoch dauerte es von diesem Zeitpunkt, in dem mich die Verzweiflung zu würgen begann, bis jetzt keine dreißig Minuten. Ein Taxi-Fahrer, der an einer Kreuzung neben mir stand, gab mir durch zwei Handzeichen die Wegbeschreibung: fünf Finger und ein Deut mit dem Zeigefinger nach rechts. Ich bog also die fünfte Straße nach rechts ab und fuhr die Abraham Kazan Street entlang. Sie mündete direkt in die Grand Street. Unweit meines Häuserblocks.
Die Straße war kaum frequentiert. Nur vereinzelt begegneten mir Fahrzeuge. Auch auf den Trottoirs befanden sich nur wenige Menschen. Eine ältere Dame, die einen Rollkoffer hinter sich herschleifte. Ein Mann in einem elektrischen Rollstuhl, der aus der Apotheke fuhr, eine Plastiktüte auf seinem Schoß, und eine Mutter, die ihr Kleinkind im Arm hielt und vor der Ampel wartete. Ich bremste. Rote Locken leuchteten um ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Helle, grüne Augen blitzten in meine Richtung. Ein kurzer Blickkontakt. Dann drehte sie sich zur Seite.
Ein Hupen hinter mir schreckte mich auf und ich fuhr weiter. Da ein Schild an der Hauswand mit der Nummer 538 darauf hinwies, dass ich mein Ziel erreicht hatte, hielt Ausschau nach einer Parkmöglichkeit. Doch meine Gedanken hingen an dieser rothaarigen Frau. Jede Frau hier auf der Straße konnte meine Frau sein. Jedes Kind mein Fleisch und Blut. Und jeder einzelne Mensch konnte mich besser kennen, als ich es tat.
Selbst jetzt, da ich auf mein Wohnhaus blickte, stieg keinerlei Vertrautheit in mir auf. Ich fühlte mich wie ein Besucher. Ein Fremder, den man in eine Gegend geschickt hatte, die er nie zuvor gesehen hatte. Ich überlegte, ob es eine andere Grand Street geben könnte und mich der Taxilenker schlicht zur falschen gesandt hatte. Aber selbst im chaotischen Trubel meiner Gefühle kam mir diese Erklärung fadenscheinig vor. Nein. Dies war mein Wohnhaus. Hier wohnte ich. Und ich musste endlich aus dem Wagen steigen und herausfinden, wer ich war.
Der Schmerz trat nach der ersten Belastung des Beines ein. Wie ein Blitz zog sich das Brennen durch den Oberschenkel und jeder Versuch, den Schmerz zu ignorieren, scheiterte.
Ich humpelte die Straße entlang und bog in Richtung Hauseingang ein. Über der doppelflügeligen Tür war ein grüner Baldachin angebracht. In großen weißen Lettern strahlte Hillman in der Vormittagssonne. Darunter stand 538 E Grand Street . Rechts vor dem Eingang befand sich ein Verschlag in der Grünfläche. Eine Portierloge, in deren Seitenfenster sich die Statur eines Mannes abzeichnete. Auf dem Kopf eine Schirmmütze. Der Portier schob das Frontfenster nach oben und streckte den Kopf nach außen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er mit aufgesetzter Höflichkeit, die vermutlich Teil seines Job-Profils war. Ich schüttelte den Kopf. »Mister Reynolds?«
Ich nickte und sah ein breites Lächeln im Gesicht des Portiers. »Mister Reynolds«, wiederholte er. »Ich habe Sie nicht gleich erkannt. Wohl einen starken Einsatz gehabt?«
»Ja. Sehr stark.« Ich deutete auf meinen Oberschenkel, während ich auf die Portierloge zuhumpelte. »Arbeitsunfall«, erklärte ich. Nur mit Mühe konnte ich meine Lippen nötigen, etwas Ähnliches wie ein Lächeln zu formen.
»Sieht schlimm aus«, meinte der Portier und schüttelte den Kopf. »Ich mache Ihnen auf«, fügte er hinzu und drückte auf eine Taste an der Holzwand des Verschlages. Ein kurzes Knacken war von der Eingangstür zu vernehmen.
»Danke«, sagte ich und nickte dem Mann zu.
»Werden Sie schnell wieder gesund!«, rief mir der Portier nach. »New York City braucht Sie!«
Ich hob kurz die Hand und drückte die Tür nach innen.
Kalte Luft empfing mich in einem Gang, der nach etwa fünf Metern nach links abzweigte. Eine Reihe von Türen zog sich den schwach beleuchteten Korridor entlang. Neben jeder einzelnen war ein Schild montiert, auf dem groß Hillman aufgedruckt war. Darunter befand sich jeweils ein Name. Firmennamen.
Ich erhoffte Hinweise bezüglich Stockwerk und Türnummer auf dem Wohnungsschlüssel und holte den Schlüsselbund aus meiner Hosentasche. Neben dem Wagenschlüssel befanden sich noch fünf weitere auf dem Ring. Der Appartementschlüssel war schnell gefunden. Er trug als einziger die Aufschrift Hillman . Darunter stand: 10 und App. 3 . 10 musste für das Stockwerk stehen, 3 für die Nummer meines Appartements.
Ich humpelte den Gang entlang. Ein leises Klingeln beantwortete meine Frage nach dem Fahrstuhl. Schnelle Schritte hallten im Korridor. Ein Mädchen, geschätzte fünfundzwanzig Jahre alt, bog um die Ecke und begann zu lächeln. Sie trug einen grauen Jogging-Anzug und Sportschuhe. Das lange, schwarze Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Hi Jack!«, rief sie. »Alles klar?« Sie lief schnell an mir vorbei und strich mit der Hand über meine Schulter.
»Hi!«, rief ich zurück. »Klar ist alles klar!« Ich blickte ihr nach und sah sie noch winken, bevor sie in Richtung Ausgang verschwand. Es handelte sich zwar nicht um meine Frau, aber allem Anschein nach musste sie mich mögen. Ich war also keiner dieser anonymen Einsiedler, die einsam in einem Miethaus starben und erst nach Wochen aufgrund des Verwesungsgeruches entdeckt wurden. Diese Erkenntnis beruhigte mich.
Nach einem Knarren, das im Korridor laut hallte, schnappte die Lifttür hinter mir ins Schloss. Rechts zogen sich Wohnungstüren den Gang entlang. Mit jedem humpelnden Schritt beschleunigte mein Puls. Als ich vor der Wohnungstür stand, raste mein Herz und mit dem Drehen des Schlüssels begann die Welt zu verschwimmen. Ein Klacken. Dann war die Tür entriegelt.
Ich atmete tief durch und drückte das Türblatt in den Raum.
»Hallo?«, rief ich und horchte. Kein »Jack?«. Kein »Daddy?«. Nichts. Nur ein muffiger Geruch gepaart mit einer leicht ätzenden Note strömte mir entgegen. Ich betrat das Appartement, bemühte mich, möglichst wenig Geräusche zu machen, obwohl ich mir einredete, dass dies meine Wohnung war und ich dieses seltsame Drücken in der Magengegend nicht zu haben brauchte. Dennoch hatte ich das Gefühl, nicht hier sein zu dürfen. Ich fühlte mich wie ein Einbrecher, der kurz davor stand, auf frischer Tat ertappt zu werden. Dementsprechend groß war auch der Schreck, als die Tür hinter mir mit einem Knall ins Schloss fiel.
»Hallo?«, rief ich noch einmal. »Jemand hier?«
Keine Antwort.
Der Eingangsbereich war kaum zwei Quadratmeter groß und mit hellem Parkett ausgelegt. Ein schmaler Wandschrank stand rechts neben der Tür. Der Holzboden wechselte unter einem Torbogen von hell in dunkel. Im Gegensatz zum Eingangsbereich wirkte der Boden der Diele abgewohnt und alt, was sich durch ein Knarzen bei jedem meiner Schritte bestätigte. Von dem langgezogenen Vorraum führten insgesamt drei Türen in weitere Räume. Zwei jeweils an den Enden, die dritte gegenüber dem Eingang. In der Tür zu meiner Rechten war Milchglas eingelassen, durch das etwas Licht in die Diele fiel. Der Wohnraum, vermutete ich und ging langsam darauf zu.
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