»Die Wunde«, sagte ich, als hätte ich mich erst durch seine Frage wieder an sie erinnert. »Ein Unfall«, fuhr ich fort und bemühte mich, gleichgültig zu klingen, wobei mir ein Gedanke durch den Kopf schoss, der mich möglicherweise in eine bessere Position hieven könnte. »Habe einem Freund geholfen. Beim Hausbauen. Und der Idiot hat mir einen Nagel in den Schenkel geschossen. Sie wissen schon, mit einer Nagelschuss-Pistole.«
Unfälle beim Hausbau mussten Verständnis bei Männern hervorrufen. Und ich brauchte Verständnis, denn zunehmend hatte ich den Verdacht, dass mich die Polizei nur aus einem einzigen Grund angehalten hatte. »Ich bin dann sofort losgefahren … in Richtung Stadt … muss in ein Krankenhaus. Entschuldigen Sie, Officer, wenn ich zu schnell war. Aber dieses Ding …«, ich nickte zu meinen Beinen, »… brennt höllisch.«
»Sieht schlimm aus«, brummte der Polizist und blickte zum Heck des Wagens. »Aber die Speedlimits gelten auch für verletzte Menschen. 65 Meilen pro Stunde und Sie waren mit 75 unterwegs.«
»Ja, Officer. Tut mir leid. Wird nicht wieder vorkommen.«
Der zweite Beamte stellte sich zum Fahrerfenster. Er murmelte seinem Kollegen etwas Unverständliches zu. Es klang nach einer Buchstabenkombination. Ähnlich wie NYPD, FBI, CIA oder NSA, wobei es keine dieser Abkürzungen war. Was immer der Polizist gesagt hatte, entlockte seinem Kollegen ein anerkennendes Nicken.
»Okay, Mister Reynolds. Dann schauen Sie, dass Sie in ein Krankenhaus kommen. New York City braucht Sie. Gute Fahrt.« Er klopfte zwei Mal auf das Wagendach.
»Danke«, sagte ich und versuchte zu lächeln, wobei ich nicht das Gefühl hatte, dass es mir gelang. Um nicht verdächtig zu wirken, blickte ich kurz zur Wunde. Er nickte und ging mit seinem Kollegen zum Einsatzfahrzeug.
New York City braucht Sie . Was meinte er damit? Wen brauchte die Stadt New York? War ich ein Polizist? Nein. In diesem Fall hätte er mich als Officer betitelt. Was immer der Polizist vom Department erfahren hatte – es hievte mich in eine spezielle Position. Denn nicht nur, dass er mich nicht für die Geschwindigkeitsübertretung bestraft hatte, er wollte auch meine Wagenpapiere nicht sehen, die ich hätte suchen müssen, was mich mit Sicherheit in Schwierigkeiten gebracht hätte. Dann die Waffe unter dem Beifahrersitz. Was wäre gewesen, wenn sie meinen Wagen durchsucht hätten? Ich könnte auch im Kofferraum weiß Gott was mitführen. Waffen, Drogen, oder andere Dinge, die mich gerade Wegs in eine Zelle bringen würden. Aber auch Gegenstände, die mir mehr über mich mitteilen könnten. Ich musste nachsehen. Sofort.
Ich wartete, bis der Einsatzwagen außer Sichtweite war, und öffnete die Fahrertür. Das taube Gefühl im Unterschenkel hatte zugenommen. Bei jedem Schritt spürte ich ein Kribbeln im rechten Fuß, das die Furcht vor einer Beinprothese schlagartig zurückkehren ließ.
Der Schlüssel ließ sich nur mit Kraft drehen. Mit hellem Klacken sprang der Kofferraumdeckel auf. Ich scheute mich, ihn hochzuheben. Immer wieder tauchte der absurde Gedanke auf, dass mich in wenigen Augenblicken das bleiche Gesicht des Mexikaners anstarren würde. Der leere Blick, die blutlosen Lippen, das nassrote Hemd. Und dann würde er mich fragen, warum ich ihn in der Hütte liegen gelassen hatte. Ohne jedes Mitgefühl. Nach allem, was er für mich getan hatte.
Es befand sich kein Mexikaner in dem Kofferraum. Nur ein Paar graue, schmutzige Stiefel, wobei es sich bei dem Dreck nicht um Schlamm handelte. Er war schwarz. Und der Geruch im Kofferraum bestätigte meinen ersten Verdacht: Ruß. Das Material der Stiefel war kein herkömmlicher Kautschuk. Es fühlte sich robust an. Hart und dennoch geschmeidig. Es musste sich um spezielle Stiefel handeln. Auf einem schwer lesbaren Etikett am inneren Schaft erhielt ich die Information, die vieles erklärte. FDNY. Fire Department New York City . Es waren die Stiefel eines Feuerwehrmannes.
New York City braucht Sie. Jetzt wusste ich, was der Polizeibeamte meinte. Ich war ein amerikanischer Feuerwehrmann. Ich war ein Held.
Die vorbeifahrenden Trucks ließen den Boden beben und das Dröhnen der Dieselmotoren schreckte mich mit jedem Mal aufs Neue auf. Dennoch hörte ich sie deutlich. Diese Stimme. Eine Kinderstimme. Sie sang meine Melodie. »Somewhere over the rainbow …«
Zuerst dachte ich, dass ich mich täuschte und sich diese Worte nur in meinem Kopf bildeten. Doch nach und nach wurde mir klar, dass die Stimme, die Töne und der Text durch die Luft schwebten und sich deren Ursprung unmittelbar in der Nähe befand. In meinem Wagen.
Ich drückte den Kofferraumdeckel nach unten und erkannte einen Lockenkopf durch die Heckscheibe. Blonde Spirallocken.
Das Mädchen aus der Hütte.
»Way up high. There‘s a land that I heard of …«
Es fiel mir schwer, mich zu bewegen. Zwar arbeitete mein Verstand auf Hochtouren und wollte mir einreden, dass dieses Mädchen nicht in meinem Wagen sitzen konnte, aber meine Augen widersprachen dieser Behauptung. Die Kleine saß in meinem Chevrolet. Auf der Rückbank. Und sang.
»Once in a lullaby. Somewhere over the rainbow …«
Ich zwang mich nach vorne zu gehen, fasste nach der Türschnalle und zog daran. Ein leises Klacken. Das Mädchen war verschwunden.
Oder war es nie da gewesen?
Natürlich war das Mädchen da, Jack. Du hast es doch gesehen.
Nein. Es gab kein Mädchen. Nicht in der Hütte, nicht in meinem Wagen, nirgendwo. Mein Gehirn spielte mir einen Streich.
Ich kannte dieses Mädchen nicht. Ich hatte nichts mit ihm zu tun. Aber auch wenn ich mir diese Dinge einzureden versuchte, wusste ich, dass ich mich belog. Denn obwohl das Mädchen nicht mehr auf der Rückbank saß, hatte sie doch etwas zurück gelassen.
Ich beugte mich in den Wagen und fasste nach der Puppe.
Sie trug ein hellblaues Ballettkleid. Die blonden Locken waren mit einem blauen Haarband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Lippen waren mit rotem Filzschreiber nachgemalt worden und an der rechten Wange glänzten dicke schwarze Tränen. Das Gesicht der Puppe wirkte traurig, und obwohl die Lippen zu einem Kuss gespitzt waren, hatte ich beim Betrachten das Gefühl, dass aus den blauen Augen jeden Moment Tränen fließen würden.
Diese Puppe musste bereits im Wagen gelegen haben. Die ganze Zeit. Ich hatte sie nur nicht bemerkt, was in Anbetracht der Hektik plausibel war. Vermutlich war das Auftauchen des Mädchens nur ein Rest an Erinnerung, der in meinem Gedächtnis aufgeblitzt war. Jede andere Erklärung war absurd.
Ich warf die Puppe zurück auf die Sitzbank und setzte mich ans Steuer. Das Radio dröhnte laut und mit jeder gefahrenen Meile wuchs die Überzeugung, dass sich alles aufklären würde. Es genügte ein kleiner Lichtstrahl, um die Dunkelheit in meinem Gehirn zu vertreiben. Und dieser Lichtstrahl würde bereits auf mich warten. In New York. 538 Grand Street.
Ich wechselte auf die Überholspur und presste den Fuß auf das Gaspedal. Die Trucks im Rückspiegel wurden schnell kleiner. Im Minutentakt blickte ich auf den Rücksitz. Kein Mädchen. Nur diese Puppe.
Lag es am Wechselspiel zwischen Sonnenlicht und Schatten? Vermutlich. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben, für den Eindruck, dass die Kunststofflippen bei jedem Blick erneut zu grinsen begannen. Boshaft. Als würde diese Puppe ein Geheimnis hüten und es kaum erwarten können, dass ich es endlich lüfte.
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