Die Tür war angelehnt. Ich drückte sie auf und musste kurz die Augen schließen. Sonnenlicht blendete. Auch hier bestand der Boden aus dunkelgrauem Holz, dessen Unebenheit durch den Lichteinfall ins Auge stach. Links im Eck stand eine Couch, auf der zwei Personen sitzen konnten. Wie der Boden wirkte sie alt und schmuddelig, aber nicht unbequem. Davor stand ein heller Holztisch mit einem Couchsessel. Gegenüber eine Kochnische, in der sich außer einem Herd mit Kochplatte und einem mit Geschirr gefüllten Waschbecken nur ein schmaler Geschirrschrank und ein Kühlschrank befanden.
Rechts von der Tür ragte ein raumhoher, weißer Wandverbau hoch, mit Büchern und DVDs in drei Regalen. Daneben stand ein Kästchen. Darauf ein Fernsehgerät und ein DVD-Player – beide hatten wie der Rest des Zimmers offensichtlich schon einige Winter erlebt.
Alles in allem wirkte der Raum warm und gemütlich. Jedoch wurde mir beim Anblick der bunt zusammengewürfelten Möbel eines klar: Ich hatte keine Familie. Es fehlten Details, die auf die Handschrift einer Frau hindeuteten. Blumenstöcke, Bilder an der Wand, heimelige Vorhänge passend zu Läufern und Teppichen. Es fehlten herumliegende Spielsachen, Kinderschuhe und Frauen-Magazine auf dem Tisch.
Die zweite Tür im Gang führte ins weiß geflieste Badezimmer. Eine Dusche und ein Waschbecken neben einer Toilette, auf knapp drei Quadratmetern, wobei man während des Verrichtens des großen Geschäftes die Armaturen des Beckens und der Brause ohne Mühe erreichen konnte. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, neben der Armatur lagen Seife, Zahnbürste und -pasta. Darüber war ein Holzregal montiert, worauf ein Kamm und ein Rasierapparat abgelegt waren. Neben dem Spiegel hing ein weißes Handtuch.
Ich befand mich bereits wieder in der Diele, als ich stutzte. Das Waschbecken. Hatte ich mich getäuscht? Noch einmal betrat ich das Bad. Das Becken war nass. Jemand musste vor kurzem hier gewesen sein. Der Gedanke, ich hätte doch nicht alleine hier gewohnt, ließ Freude in mir aufflackern. Vorsichtig legte ich die Hand auf den Knauf der letzten Tür. Es musste das Schlafzimmer sein. Vielleicht befand sich wer immer das Becken benutzt hatte hinter dieser Tür? Vielleicht schlief meine Freundin und hatte meine Rufe nicht gehört?
Nach einem leisen Klacken schwenkte das Türblatt in den Raum. Ein Doppelbett. Nur auf einer Seite war die Matratze mit einem Leintuch bezogen. Ein zerknittertes Kissen lag darauf, eine Stoffdecke zurückgeschlagen am Fußende.
Ein weißer Schrankverbau zog sich von der Tür zur Fensterwand. Die Schranktüren standen offen.
Neben dem Fenster hing ein Bild. Es zeigte einen neben Betonbrocken knienden Feuerwehrmann, der sich auf seiner Axt abstützte. Sein Gesicht war dreckig, der Helm tief ins Gesicht gerutscht. Diesen Schnappschuss hatte jemand kurz nach einem Großbrand gemacht. Das Bild berührte mich in einer Art, die ich nicht zu beschreiben vermochte. Ich fühlte mit diesem Mann, spürte seine Müdigkeit und den Willen, dennoch weiterzukämpfen. Und für einen kurzen Augenblick glaubte ich, dass ich dieser Mann war. Nicht äußerlich – innerlich. Als würde ich in diesem Moment vor den Trümmern meines Lebens knien und mich zwingen, aufzustehen und weiter zu gehen. Immer weiter – bis ich die Wahrheit gefunden hatte.
Das verknitterte Kissen und die Decke zeigten mir eines ganz klar: Ich hatte definitiv alleine in dieser Wohnung gewohnt. Die Freude über eine mögliche Mitbewohnerin erlosch und machte einem neuen Gefühl Platz. Einem unangenehmen Gefühl – als zöge sich Gänsehaut über meine Eingeweide, ausgelöst durch einen Wurm aus Eis, der durch meinen Darm kroch. Was immer die Ursache für dieses Gefühl war – es ließ mich augenblicklich über meine Schulter blicken, in die Diele, als würde etwas Bedrohliches von dort in das Schlafzimmer strömen.
Erst ein paar Sekunden später registrierte ich ein Geräusch. Es schien aus dem Wohnzimmer zu kommen. Als zöge jemand einen altertümlichen Wecker auf. Wieder und wieder.
Oder eine Spieluhr?
Ja. Eine Spieluhr.
Kommt dir das nicht bekannt vor, Jack?
Die Melodie spielte los. Somewhere over the rainbow. Ich sah eine Silhouette am Milchglas der Wohnzimmertür. Deutlich konnte ich einen Lockenkopf erkennen. Der Schatten bewegte sich vor und zurück. Im Takt der Melodie. Zu den Tönen gesellte sich ein weiteres Geräusch. Als rollte ein Reifen über knarzendem Parkett. Und dann eine Mädchenstimme. Singend. »Way up high, there‘s a land that I heard of, once in a lullaby.«
Meine Hand zitterte, als ich sie auf den Knauf der Wohnzimmertür legte.
»Somewhere over the rainbow, skies are blue, and the dreams that you dare to dream, really do come true.«
Ich öffnete die Tür.
Stille.
Kein Mädchen. Keine Spieluhr.
Dafür tauchte dieses verschwommene Bild in meinem Kopf auf. Helle, blaue Augen, weit aufgerissen. Eine Locke in der Stirn. Aus den Augenwinkeln flossen Tränen. Sie glitzerten in feurigem Orange. Nun erkannte ich auch den Mund. Schmerzverzerrt. Schreiend.
Das Klingeln des Lifts gellte durch das Vorhaus. Kurz darauf hörte ich das Knarren der Lifttür.
Sie kommen, Jack. Sie werden dich holen.
Niemand wird mich holen. Es werden nur Nachbarn sein. Oder das Mädchen, das vom Joggen zurückkommt.
Lauf, Jack! Lauf um dein jämmerliches Leben.
Schritte hämmerten durch den Gang. Mindestens zwei Personen. Sie kamen näher.
Ich versuchte, die aufkommende Panik zu verdrängen. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass diese verhasste Stimme in meinem Kopf Recht hatte. Wer immer durch den Gang rannte – wollte zu mir.
Die Luft atmete sich wie muffige Watte. Meine Lunge forderte tiefe Atemzüge, aber ich wagte nicht, diesem Bedürfnis nachzugeben. Jedes noch so leise Schnaufen konnte mich im Schlafzimmerschrank verraten. Dazu kam ein Gefühl des Ausgeliefertseins, ausgelöst durch die Dunkelheit und die Enge. Nur durch einen Schlitz zwischen den beiden Schranktüren schnitt ein Lichtstrahl durch die Finsternis.
Mir war bewusst, dass jemand, der mich suchte, früher oder später im Schrank nachsehen würde. Aber es gab diese kleine Restwahrscheinlichkeit, dass die Besucher nichts von meiner Anwesenheit wussten.
Das Knarren von Schritten in der Diele verriet, dass sie die Wohnung betreten hatten und sofern sie kein direktes Ziel hatten, würden sie so wie ich zuerst den Wohnraum aufsuchen. Das Knarren in der Diele wurde leiser, gefolgt von einer Männerstimme. Gedämpfte Worte drangen durch die Schranktür, zu leise gesprochen, als dass ich sie hätte verstehen können. Die Wohnzimmertür klackte ins Schloss.
Ein Geräusch. Im Schlafzimmer. Ein Schleifen, als würde eine Person über den Holzboden robben. Dann hastige Schritte, die sich entfernten. In die Diele. Ins Treppenhaus.
»Da ist jemand!«, schrie ein Mann. Der Türknauf wurde gedreht. »Er ist raus!«
»Du bleibst hier«, antwortete der andere. Kurz darauf hämmerten wiederum Schritte im Korridor, wurden schnell leiser.
Immer wieder fragte ich mich, warum ich mich versteckte. Es war meine Wohnung und außer mir hatte hier niemand etwas zu suchen. Doch vermutlich war es diese Stimme in meinem Kopf, diese Panik in meiner Brust und dieses Drücken im Magen, das mir unmissverständlich mitteilte, dass diese Männer mir keinen Höflichkeitsbesuch abstatteten. Sie waren gefährlich. Tödlich. Wie die beiden im Motel. Sofern es sich nicht ohnehin um dieselben Personen handelte.
Читать дальше