Die Augen des Herzogs von Cornouailles funkelten böse, „…oder wir räumen Meister Flamel aus dem Weg und nehmen das Manuskript einfach.“
Chaulliac zwang sich zur Ruhe. Er war nicht davon überzeugt, dass es eine gute Idee war, Flamel sein Buch zu stehlen oder es durch Gewalt in ihren Besitz zu bringen. „Das wäre zu gefährlich, Ambrosius. Lasse gut sein. Ein Mord und ein Diebstahl würden viel zu viel Aufsehen erregen und möglicherweise wieder Männer auf die Spur des Ordens führen...oder schlimmer noch, auf die Spur der weißen Bruderschaft. Flamel...er weiß ganz genau, wie gefährlich sein Grimoarium ist; er erzählte mir, wie es ihm gelang, alles zu entschlüsseln...und warum er schließlich seine alchimistischen Arbeiten einstellte und das ganze Gold einfach verschenkte. Ich habe das Gefühl, das da noch mehr ist, als nur dieser komische Fluch. Flamel erwähnte kurz den Kerl, der für de Cramoisi gearbeitet hatte und wirklich die Untersuchung gegen ihn leitete...ein gewisser Jean de Craon. Vielleicht wäre es vernünftiger, erst einmal genau herauszufinden, wer dieser de Craon ist, welche Rolle er damals wirklich gespielt hat, warum er unserem Freund in der Rue de Marivaux solche Angst einjagte und wer am Ende wirklich dafür gesorgt hat, das der Notarius dieser königlichen Untersuchungskommission unbeschadet entrinnen konnte...und um welchen Preis.“
Die Augen des Herzogs von Cornouailles bohrten sich tief in die Augen des Okzitaniers. Mehrere Minuten lang schwiegen beide Männer sich an. Es war ein stummer Kampf, Wille gegen Wille, Überzeugung gegen Überzeugung. Chaulliac bemühte sich, weder Furcht noch Zweifel durchscheinen zu lassen, während er Ambrosius‘ Blick standhielt. Am Ende schien es so, als ob der Mann aus dem Süden den Sieg über den Herzog von Cornouailles davontrug. „Gut“, sagte Ambrosius kurz angebunden, “ wir werden vorerst das tun, was Du vorschlägst.“ Und mit einem leisen Hauch von Bitterkeit fügte er hinzu. „Ich werde morgen einen Kurier mit einer Nachricht für Stephan von Paléc nach Prag schicken. Damit hätten wir vorläufig unsere Pflichten dem Orden gegenüber erfüllt.“
Chaulliac atmete auf. Alles deutete darauf hin, dass er die erste Schlacht gewonnen hatte. Nun musste sich noch zeigen, ob er auch klug genug war, dafür zu sorgen, dass der ganze Krieg gewonnen wurde, bevor irgendein Mann, der tiefer in die Geheimnisse der Welt und der Zeit eingeweiht war, als Bernard de Clairvaux oder der Notarius Flamel die Übersetzung des Manuskriptes von Abraham Eleazar in die Hände bekam.
X
Bran’wen klopfte nicht an, sondern riss einfach die Tür auf: Als sie den unmenschlichen Schrei gehört hatte, war sie von ihrem Lager hochgefahren und losgerannt. Sie hatte vor lauter Angst keine Gedanken daran verschwendet, wie unschicklich sie aussah: Lediglich mit ihrem Untergewand bekleidet, ohne eine Haube über den Haaren und barfüßig stand die alte Frau im Gemach ihrer Herrin. Sie war unfähig sich zu bewegen oder auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Mit furchtgeweiteten Augen starrte sie auf den dunklen, feuchten Fleck auf dem hellen Gewand. Die Herzogin von Cornouailles lag in einer seltsam unnatürlich anmutenden Haltung vor dem erkalteten Kamin. Auf den ersten Blick wirkte es so, als ob ein geheimnisvoller Angreifer ihr einen üblen Stoß versetzt hatte. Die Augen von Maeliennyd Glyn Dwyr waren geschlossen. Ihr Atem ging mühselig und stoßweise. Sie musste sich im Fall böse den Kopf angeschlagen haben, denn ihre schwarzen, zu einem schweren Zopf geflochtenen Haare wirkten an der einen Seite ganz klebrig und verfilzt. Der Lehnstuhl, auf dem sie zuvor wohl gesessen hatte, war achtlos umgestoßen worden und ebenso der kleine Tisch, auf dem die alte Frau noch wenige Stunden zuvor eine Glasschale mit Süßigkeiten und Obst für ihre Herrin hergerichtet hatte. Wie kleine Edelsteine funkelten die Splitter der zerbrochenen Schale im Licht der untergehenden Sonne, die durch die weit geöffneten Fenster fiel.
Erst als ein schwaches Wimmern, wie von einem verängstigten Kindes über die Lippen der bewusstlosen Frau auf dem Boden schlich, löste sich Bran’wens Erstarrung und sie Riss in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände hoch. Dabei schrie sie mit aller Kraft. Ihr panischer Schrei glich dem eines schwer verletzten Tieres in Todesangst. So undeutlich der Schrei gewesen war, der die alte Frau erst wenige Augenblicke zuvor in ihrer Kammer aus dem Schlaf gerissen hatte, so deutlich waren die Worte die sie jetzt in ihrer grenzenlosen Verzweiflung herausschrie.
Obwohl sich an diesem Festtag wegen der Vorbereitungen für das große Bankett nur einige wenige Dienstleute innerhalb der Mauern des Palas aufhielten, dauerte es nicht lange, bis sich eine kleine Menschentraube hinter Bran’wen bildete. Die beiden blutjungen Mägde, zu deren Aufgabe es für gewöhnlich gehörte, dem Bäcker von Carnöet zur Hand zu gehen, hatten den Schrei der alten Frau ebenfalls gehört, obwohl sie unten im Innenhof zugange gewesen waren. Trotzdem waren sie sozusagen die Ersten, die es wagten sich hinter der händeringenden, verzweifelten Bran’wen in Maeliennyd Glyn Dwyrs Gemach zu drängen. Und sie waren die Einzigen, die auf das furchteinflößende Schauspiel, das sich ihnen dort bot, vernünftig reagierten.
Anstatt mit den anderen Gaffern tatenlos herumzustehen, zu heulen und zu lamentieren, rannte die Ältere sofort los, um den Herzog von Cornouailles zu finden, während die Jüngere sich auf den Weg in die Küche machte, einen großen Kessel mit Wasser übers Feuer hängte und einen Stapel saubere Tücher zusammensuchte. Sie hatte erst vor wenigen Wochen mitangesehen, wie das erste Kind ihrer älteren Schwester zur Welt gekommen war. Darum deutete sie den dunklen, feuchten Fleck, der sich bis fast hinunter zu den Knien auf dem hellen Gewand der Herzogin ausgebreitet sofort richtig.
Jetzt stand sie hinter einem dunkelhäutigen, dunkelhaarigen Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, den sie ein paar Stunden zuvor flüchtig in Begleitung des Herzogs von Cornouailles wahrgenommen hatte, als dieser ihr im Hof der Festung ein warmes, frisch gebackenes Brot aus dem Korb stibitzt hatte. Der Mann sprach in kurzen Sätzen und sein Tonfall war barsch, doch sie begriff, das seine herrische Art nicht gegen sie gerichtet, sondern ein Zeichen der Dringlichkeit der Situation war, mit der sie konfrontiert wurden. Ihre Freundin, die Ambrosius Arzhur geholt hatte, war bereits auf dem Weg, um auch noch Aodrén Jaouen Kréc’h Elis aufzuspüren. Die alte Bran’wen saß nur nutzlos und zutiefst verstört in einem Winkel des Zimmers und heulte leise vor sich hin.
„Es ist noch viel zu früh für das Kind“, fluchte der dunkle Mann, während Ambrosius de Cornouailles am Kopfende des Bettes seiner Gemahlin stand, und ihr mit einem feuchten Tuch die schweißnasse Stirn abwischte. Die Dienstmagd bemerkte, wie der Herzog sich anstelle einer Antwort auf die Lippen biss. Seine Augen waren finster und über seinem Gesicht lag ein Schatten.
XI
Die Stunden schlichen dahin. Bran’wen war inzwischen in ihrer Ecke eingeschlafen und die Dienstmagd, die Chaulliac zur Hand gegangen war, hatte man in die Küche zurückgeschickt, um noch mehr heißes Wasser aufzusetzen und für die Herzogin von Cornouailles einen großen Krug Kräutertee zu bereiten. Ihre Freundin hatte Aodrén zwischenzeitlich unweit der Festung am Flussufer gefunden. Dort hatte er zusammen mit den beiden Söhne von Ambrosius und Maeliennyd und ihrem kleinen Freund Arzhur de Richemont im Gras gesessen, die Zeit vertrödelt und den drei Kindern gezeigt, wie man sich aus ein paar nassen, geschmeidigen Binsen schnell und einfach eine Falle für schmackhafte Flusskrebse bauen konnte.
Jetzt stand der gelehrte Mann zu seiner ganzen Größe aufgerichtet und stocksteif am Fußende des Bettes der Herzogin und beobachtete tief besorgt die leichenblasse Frau, die kaum bei Bewusstsein schien. Für gewöhnlich riet Aodrén jeder Gebärende dazu, nachdem sie die Wasser verloren hatte, solange sie es aushalten konnte herumzulaufen, um die Wehen und damit die Geburt zu beschleunigen. Er verzog den schmalen Mund. In seinem langen Leben hatte er unzähligen Kindern gesund auf die Welt geholfen. Dies schloss nicht nur seine eigenen neun Töchter und seine drei Dutzend Enkel ein, sondern auch den gesamten Nachwuchs der herzoglichen Familie von Cornouailles, der während des letzten halben Jahrhunderts auf die Welt gekommen war. Er hatte sogar schon mehrfach erfolgreich die sogenannte römische Methode angewandt, ohne dabei die Mutter oder das Neugeborene zu verlieren. Man nannte diesen Eingriff auch die Sectio Caesarea. D er Imperator Julius Cäsar war damals dank zweier schneller, präziser Schnitte durch die Bauchdecke seiner von hochwirksamen Drogen betäubten Mutter ans Licht der Sonne geholt worden, nachdem die Steißlage des Kindes eine Geburt auf dem normalen Wege vereitelt hatte. Gewöhnliche Ärzte wagten diesen Eingriff höchstens bei toten Frauen, um ein ungeborenes Kind vielleicht doch noch zu retten.
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