VI
Maeliennyd seufzte zufrieden, als sie endlich wieder vor der Tür zu ihrem Gemach stand. Der lange Spaziergang im Wald hatte ihr gut getan und nicht einmal der Gedanke an die Unterhaltung mit Aodrén vermochte ihre wunderbare Laune zu beeinflussen. Ihre Kammerfrau döste auf der Bank am Fenster, fest in ihren Umhang gewickelt, obwohl es selbst hinter den dicken Mauern der Festung überhaupt nicht mehr kalt war. Die anderen Dienstleute waren bereits verschwunden, um sich im Innenhof der umtriebigen Festung oder in der kleinen, bunten Zeltstadt, die sich für ein paar kurze Frühlingstage vor den Mauern von Carnöet eingerichtet hatte mit Freunden, Verwandten und Bekannten zu treffen, die aus der ganzen Umgebung und aus den grenznahen Dörfern der Bretagne gekommen waren. Ihr Gemahl verbrachte die Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit vermutlich mit seinem alten Freund Guy de Chaulliac, der inzwischen aus Concarneau eingetroffen war und ihre Frauen mussten sich bereits hinunter auf die große Wiese begeben haben, wo Ambrosius Arzhur in wenigen Stunden seine Gefolgsleute und Vasallen zu einem großen Festschmaus einladen würde. Maeliennyd blickte noch einmal auf ihre Kammerfrau: Hatte sie etwa den ganzen schönen Tag hier verschlafen, während sie auf die Rückkehr ihrer Herrin gewartet hatte?
Die Herzogin zuckte die Schultern. Sie würde Bran’wen heute nicht mehr brauchen und ankleiden konnte sie sich auch ohne fremde Hilfe. Sie weckte die Alte, die sich mürrisch aufrappelte und dann auf den Weg zu ihrer eigenen Kammer am Ende des Flures machte. Dann ging sie in ihr Gemach. Dort zog Maeliennyd sich einen gemütlichen Lehnstuhl neben einen kleinen Tisch, auf dem in einer großen Schale getrocknetes Obst und ein paar kandierte Süßigkeiten aus Al Andalus für sie hergerichtet worden waren. Zufrieden seufzend legte sie die Füße auf einen Hocker und schloss die Augen. Sie wollte sich ein wenig ausruhen, bevor sie sich für das Fest vorbereitete.
VII
Ambrosius verzog leicht das Gesicht, doch er beherrschte sich. Sie hatten den Felsengarten zwischenzeitlich verlassen und lediglich der leere Krug Wein und die beiden benutzten Becher auf der Bank neben der Quelle erinnerten noch daran, dass sie sich lange dort unterhalten hatten. Es machte keinen Sinn den alten Streit wieder aufleben zu lassen…nicht einmal um den Preis eines solch außergewöhnlichen Geheimnisses. Die verschwundene Übersetzung der Templer hatte innerhalb der weißen Bruderschaft während der letzten einhundert Jahre für zu viel Zwist und Streit gesorgt.
„Die Theorien Deines Vaters und Deines Großvaters in Ehren, Guy“, erwiderte der Herzog darum sehr vorsichtig, während sie Seite an Seite über den Innenhof der Festung zum Wohngebäude schritten. Hier bestand keine Gefahr von irgendjemandem versehentlich belauscht zu werden. Carnöet und die grasbewachsene, freie Fläche, die sich auf einer Seite der Festung bis hinab zum Fluss erstreckte glichen einem Bienenschwarm. Alles war aufgrund der Vorbereitungen für das Fest nur Aufruhr und ein ständiges Kommen und Gehen, “…doch aus welchem Grunde hätten sich Bernard Délicieux und die Carcassoner damals um Beistand ausgerechnet an den schwachen König Ferdinand von Mallorca wenden sollen, wenn sie doch den mächtigen Orden des Tempels zum Verbündeten gehabt hätten. Außerdem; die Reinen des Languedoc waren zur Zeit des Falles der Templer bereits im Wesentlichen ausgerottet…die Inquisition…“
Ambrosius hielt mit einer kurzen Handbewegung eine vorbeieilende Magd auf, die einen riesigen Korb mit kleinen, ofenfrischen Broten balancierte. Lächelnd stibitzte er dem Mädchen ein Gebäck, brach es und streckte die eine Hälfte Chaulliac hin. Dabei blitzte am Handgelenk seines sehnigen, dunklen Armes kurz ein quadratisch geschliffener, blutroter Stein in der Sonne auf, der die Mitte eines schmalen, silbernen Reifes mit scheußlichen Totenköpfen und merkwürdigen Schriftzeichen schmückte.
Guy bedankte sich, biss genüsslich von der harten, duftenden Kruste ab, kaute eine Weile und nickte schließlich. „Was Du sagst ist natürlich richtig, Ambrosius. Und trotzdem wissen wir immer noch nicht, was in den fünfzig Jahren zwischen dem Diebstahl und dem erneuten Auftauchen des Manuskriptes wirklich geschehen ist. Auch Nicolas Flamel konnte mir dazu keine Auskunft geben. Er hat das Grimoarium erst im Frühsommer des Jahres 1357 von diesem Pfandleiher gekauft. Er erzählte mir, dass ihm zuerst lediglich die Reliefs auf dem kupferbeschlagenen Einband ins Auge gesprungen waren. Nicolas öffnete den Schutzeinband noch in der Bude des Verkäufers und als er feststellte, dass es sich um ein unbeschädigtes Manuskript in allerbestem Zustand handelte, zögerte er nicht es zu kaufen...allerdings ohne dem Mann anzuvertrauen, welcher wahre Schatz sich da zufällig unter lauter Abfall und wertlosen Metallteilen versteckt hatte. Er bezahlte gerade einmal 2 Deniers für die Handschrift…ein lächerlicher Preis.“
„Und Du bist Dir wirklich ganz sicher, dass es unsere verschwundene Übersetzung ist und nicht nur“, Ambrosius zögerte kurz, „...irgendeines dieser verrückten Werke, die schlaue Fälscher eins ums andere in Al Andalus herstellen, damit sie dann für schweres Gold an irgendwelche Leichtgläubige auf der anderen Seite der Pyrenäen verkaufen werden können.“
Chaulliac schüttelte den Kopf. Er hatte das frische Brot gegessen. Ihm wurde bewusst, wie sehr seine Kehle vom vielen Reden und von der Wärme des Tages ausgetrocknet war. Als Ambrosius von Cornouailles an ein paar müßig herumlungernden Wachleuten vorbei den Weg hinauf in die herzoglichen Gemächer einschlug, folgte Guy ihm bereitwillig. „Nein“, erwiderte er bestimmt und dachte, dass ihm jetzt selbst einer der unheimlichen Wächter von Barc'h Hé Lan willkommen wäre, wenn er nur neuen Wein oder einen großen Krug kalten Apfelmostes mitbrächte, „bei dem Grimoarium von Nicolas Flamel muss es sich um die echte Templer-Handschrift handeln. Jedes Detail entspricht der Beschreibung aus dem Testament von Jacques de Molay. Ich habe sogar den Fluch von Abraham Eleazar gelesen und auch diese seltsame Miniatur entdeckt, von der de Molay spricht und die Bernard de Clairvaux zusätzlich in die Übersetzung eingefügt hat.“
Der Okzitanier schloss kurz die Augen, „Ich bin Abraham Eleazar der Jude, ein Fürst, Priester und Leviter, ein Astrologe und Philosoph. Ich entstamme einem alten Geschlecht, denn meine Wurzeln gehen zurück auf Abraham, Isaac und Jakob. Meine Brüder, die ihr durch den Zorn des Großen Gottes in alle Winde zerstreut leben müsst, in Unterdrückung und Sklaverei: Ich wünsche Euch im Namen des Messias, der bald kommen wird und im Namen des großen Propheten Elias, der all seine Brüder auf diese Ankunft vorbereitet hat Erfolg und Glück. Deni, Adonai, Bocitto, Ochysche 60 F. Darum erwartet geduldig das Kommen des Helden“, zitierte er auswendig.
„Der Text scheint nicht vollständig“, sagte Cornouailles leise zu ihm, “ denn im Original.....“
Chaulliac hob die Hand und gebot dem Herzog zu schweigen. „Der Text ist vollständig. Sie haben auch den Fluch übersetzt, Ambrosius. Doch er steht nicht auf der ersten Seite, wie im Original der Handschrift. Bernard hat ihn auf die Rückseite des Deckblattes geschrieben und dort auch jene seltsame Miniatur eingefügt, die ich zuvor erwähnt habe. Was allerdings Abraham Eleazars Erklärungen über die Herkunft des niedergelegten Wissens und den wahren Zweck des großen Werkes angeht; das steht nirgendwo. Ich hatte den Eindruck, dass diejenigen, die hinter dieser Übersetzung steckten, beschlossen hatten, man könne denjenigen, denen dieser Text ursprünglich zugedacht worden war, nicht die volle Wahrheit über den Fund von Hugues de Payns und seiner acht Gefährten unter den Ställen Salomons im alten Tempel von Jerusalem anvertrauen. Wenn ich mich richtig entsinne: Molay sagt dazu Garnichts in seinem Testament... oder vielleicht wusste er es auch einfach nicht.“
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