II
Maeliennyd Glyn Dwyr freute sich über den frischen Blütenduft. Sie liebte es, alleine und ungestört durch den lichten Laubwald zu spazieren, der sich um die Festung von Carnöet in alle vier Himmelsrichtungen erstreckte. Insbesondere ein kleiner Weg hatte es ihr angetan; dieser folgte eine Weile dem Flusslauf in Richtung auf die Mündung der Laïta und auf den Atlantik zu und bog dann zu einem der Nebenarme der Laïta ab, der einen Waldsee speiste. Ein leiser Windhauch, der durch die Zweige strich, lies fein, wie Schnee weiße Blütenblättchen von wilden Apfelbäumen und Holundersträuchern auf sie herabregnen, während ihre nackten Füße auf einem leuchtend grünen Bett aus Moos voranschritten, das so weich war, wie der neue, bunte, orientalische Teppich in ihrem Gemach, den ihr Gemahl von seiner letzten Reise nach Al Andalus mitgebracht hatte.
Langsam ging sie ihren Lieblingsweg entlang in Richtung auf den Waldsee. In dieser Jahreszeit waren die Ufer des Sees über und über mit violetten und zart rosa Anemonen übersät. Und man fand dort ebenfalls einen kleinen Flecken Erde, auf dem Erdbeerspinat wuchs, einer seltsamen kleinen Pflanze, die saftige, leicht säuerlich schmeckende Früchte trieb, die in ihrem Aussehen und in ihrer dunkelroten Farbe in der Tat an richtige Erdbeeren erinnerten. Die Herzogin von Cornouailles schmunzelte und strich sich mit der Hand etwas verschämt über den prallen Leib, der sich unter ihrem luftigen Gewand wölbte. Denn ungezügelten Appetit auf süße und saure Dinge verdankte sie ihm.
Ganz so, als ob er sie dazu ermuntern wollte, endlich ihren Schritt zu beschleunigen, damit sie ans Ziel ihrer Wünsche gelangten, trat der Kleine kräftig zu. Aus Maeliennyds Schmunzeln wurde ein Lächeln: Er war noch nicht auf der Welt, aber er wusste bereits, wie man seinen Willen durchsetzt.
Zuerst hatte sie eine Weile den Frauen Gesellschaft geleistet, die dabei waren, alles für das Fest vorzubereiten. Sie kochten, brieten, räucherten und backten schon seit Tagen eifrig, ganz so, als ob sie sicherstellen wollten, das in diesem Jahr die langen Holztische in der Nacht der Sonnwendfeuer von Bealltainn vor lauter Überfluss zusammenbrachen.
Maeliennyd schämte sich immer noch ein bisschen, weil sie von allen guten Speisen genascht hatte, wie eine ungezogene Göre. Natürlich hatten die Frauen gelacht und Späße gemacht. Sie hatten auf Maeliennyds dicken Bauch gezeigt und prophezeit, dass es bei einem so heftigen Appetit der Mutter auch dieses Mal wieder ein kräftiger Junge werden würde. Die Herzogin schüttelte den Kopf. Als sie ihre Töchter getragen hatte, war sie genauso hungrig gewesen, wie jetzt und als sie mit ihren beiden Söhnen schwanger gewesen war, hatte es ihr den Appetit verschlagen. Niemand konnte vor der Geburt sagen, ob ein Junge oder ein Mädchen das Licht der Welt erblicken würde, ungeachtet dessen, was eine werdende Mutter in sich hineinstopfte oder nicht...
Endlich sah sie das Wasser des kleinen Sees durch das Blätterwerk hindurch aufblitzen. Mit der Rechten fasste Maeliennyd den Saum ihres Gewandes, um schneller laufen zu können, denn nun hatte sie auch die kleinen, leuchtendroten Früchte ausgemacht, für die sie den weiten Weg auf sich genommen hatte. Sie war alleine. Niemand beobachtete sie. Ohne zu zögern, kniete Maeliennyd Glyn Dwyr sich hin, pickte gierig Hände voller Beeren und schob sie sich genüsslich in den Mund. Das kleine Wesen schien zufrieden. Munter kugelte es sich in ihrem Bauch.
III
Guy beglückwünschte sich kurz dazu, dass der Hauptmann von Concarneau für seine Begleitung nur zwei einfache Kriegsknechte ausgewählt hatte und keines dieser sonderbaren Geschöpfe, ähnlich jenen, die er damals auf dem Gipfel des Mézenec in seiner eigenen Heimat kennengelernt hatte. Sie wachten dort, von Generation zu Generation, von Vater zu Sohn, seit den Tagen der Keltenkönige des Velay über den Tombarel.
Der junge, dunkle Mann stand regungslos, wie eine Statue vor ihnen. Um seine sonnengebräunten, muskulösen Arme wanden sich von den Handgelenken bis hinauf zu den breiten Schultern dunkelblaue, in die Haut tätowierte, geflügelte Drachen. Als er für einen kurzen Augenblick den prüfenden, kalkulierenden Blick des Wächter von Barc'h Hé Lan auf sich ruhen spürte, lief Guy ein eisiger Schauer den Rücken hinunter. Endlich senkte der junge Mann die Augen und neigte ganz leicht das Haupt vor dem Herzog von Cornouailles. Dann stellte er wortlos das Tablette mit dem Weinkrug und den zwei Bechern vor ihnen ins Gras und verschwand wieder auf die gleiche rätselhafte Weise aus dem Garten, wie er zuvor gekommen war.
Chaulliac trank dankbar einen Schluck des angebotenen Weins, vertrieb die Gedanken an den unheimlichen, dunklen Krieger und schloss die Augen. Er fühlte sich ein wenig wie jener Fischer in dem orientalischen Märchen, der eine Flasche entkorkte und einen Geist herausließ, der um ein Vielfaches stärker war, als er selbst: „Ambrosius“, sagte er leise, „ich habe es wiedergefunden.“
„Dann hat der Orden sich damals also doch geirrt“, erwiderte der Herzog. In seinen Augen funkelte plötzlich so etwas, wie Gier. Selbst die langersehnte Unterstützung und Anerkennung für seinen hart bedrängten Schwiegervater durch den unerbittlichsten Feind der Engländer schien mit einem Mal unwichtig und belanglos geworden zu sein.
Chaulliac genoss sichtlich den kurzen Augenblick der Hochspannung. Sie hatten Zeit, sie waren alleine und niemand drängte sie. Er konnte sich den Luxus gönnen und die ganze Geschichte von Anfang bis Ende zu erzählen. Natürlich würden sie hinterher sehr ernst miteinander beraten müssen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stellte seinen Becher zurück ins Gras. „Später“, sagte er zu sich selbst, „später. Jetzt erzähle ihm erst einmal von Meister Nicolas Flamel und der Handschrift.“
„Du hast doch gewiss schon einmal von diesem Notarius des Collegium Sorbonianum gehört, der vor ein paar Jahren über Nacht sagenhaft reich wurde und dann überall in Paris und in Boulogne-sur-Mer Armenhäuser und Spitäler stiftete!“
Ambrosius nickte. Natürlich hatte er von dem Mann gehört. Aodrén hatte öfter von diesem Notarius erzählt und von den wilden Gerüchten, die über ihn im Quartier Latin kursierten: ein rätselhaftes Grimoarium, uralte, mächtige Zauber und das Geheimnis der Umwandlung unedler Metalle in Gold.
Damals, als er sie zum ersten Mal gehört hatte, da hatte er die Geschichte ausgesprochen amüsant gefunden. Er war kaum älter gewesen, als sein älterer Sohn Aorélian. Er hatte sich sehr bildhaft vorgestellt, wie der weise Aodrén ohne seinen langen, weißen Bart, mit faltenlosem Gesicht und jugendlichem Eifer gemeinsam mit dem hochgelehrten Medicus Guy de Chaulliac, Großvater seines eigenen Freundes Guy, Autor der berühmten Chirurgia Magna , Leibarzt dreier Päpste und Arzt des Königs von Frankreich gemeinsam nächtelang im Dunklen vor einem Skriptorium in der Rue de Marivaux auf der Lauer gelegen hatte, nur um herauszufinden, was es denn nun wirklich mit dem Grimoarium von Nicolas Flamel und den haarsträubenden Gerüchten auf sich hatte.
Etwa zur gleichen Zeit, in der diese beiden sehr gelehrten Männer sich aufgemacht hatten, einen selbsternannten Alchimisten und Hexenmeister zu bespitzeln, war nämlich auch der französische König Charles V. auf eine ähnliche Idee gekommen. Diese höchste Einmischung hatte der Geschichte ihren besonderen Reiz gegeben: König Charles V. hatte zu jener Zeit unter der Führung seines Staatsrates de Cramoisi eine Untersuchungskommission gegen den Notarius Flamel eingesetzt. Für gewöhnlich endeten Männer, die Bekanntschaft mit königlichem Interesse und solchen Kommissionen machten entweder wegen Ketzerei und Hexerei auf dem Scheiterhaufen, oder sie verschwanden in irgendeinem finsteren, unzugänglichen und schwer bewachten Verließ. Doch Meister Flamel hatte alles vollkommen unbeschadet überstanden. Und er erfreute sich offensichtlich trotz des königlichen Interesses an seiner Person bis zum heutigen Tage immer noch allerbester Gesundheit und lebte völlig unbehelligt dort, wo er schon damals gelebt hatte.
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