Einen Moment lang zögerte er. Was, wenn dort unten kein wundes Reh lag, sondern ein Bär, der eben erst hungrig aus seiner Winterhöhle gekrochen war? Dann fasste er sich ein Herz, nahm einen Jagdpfeil mit schwerer eiserner Spitze aus dem Köcher, spannte den Bogen und stand auf.
Doch was er jetzt zu sehen bekam, erschreckte ihn mehr, als der grösste Bär es vermocht hätte: Unten am Ufer lag ein Mann.
Der Fremde starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und tastete mit der rechten Hand hektisch nach seinem Wurfspeer, der aber ausserhalb seiner Reichweite lag. Karo merkte, dass er den Bogen noch im Anschlag hielt und liess ihn langsam sinken. Allerdings hielt er die Sehne nach wie vor unter leichter Spannung.
Er besah sich den Mann, der sich nun erschöpft zurücksinken liess, etwas genauer: Irgendwie hatte er sich immer vorgestellt, dass Fremde auch fremdartig aussahen, doch das traf nicht zu. Mit seinem langen, braunen Haar und der hellbraunen, wettergegerbten Haut wäre er in ihrem Dorf nicht aufgefallen. Auch seine Kleidung aus Leder und grober Wolle unterschied sich nicht von der ihren. Allerdings musste der Mann eine schwere Zeit hinter sich haben. Seine Gesichtshaut spannte über die Wangenknochen, und die geöffnete Jacke gab den Blick auf einen dreckigen und ausgemergelten Oberkörper frei. Am linken Oberschenkel war seine Hose zerrissen, und Karo sah eine tiefe, schlecht verschorfte Wunde. Was er dann bemerkte, liess ihm den Atem stocken: In der Wunde steckte noch der abgebrochene Schaft eines Pfeils.
Karo kannte die Geschichten von verfeindeten Stämmen, die mit Waffen aufeinander losgingen. Aber seit er sich erinnern konnte, war noch nie ein Mensch im Tal durch die Hand eines anderen gestorben oder auch nur schwer verletzt worden. Kämpfe auf Leben und Tod waren für ihn nur Schauergeschichten, die die Alten an langen Winterabenden erzählten.
Bis jetzt.
Der Fremde sah ihn immer noch aus schreckgeweiteten Augen an. Karo traf eine Entscheidung. Er legte den Bogen weg, schnallte seinen Dolch ab und ging, die Handflächen nach aussen gedreht, langsam zum Verletzten hinab. Er kniete sich hin, tippte an seine Brust und sagte: „Ich heisse Karo.“
„Dast“, stöhnte der Fremde, der sich nun merklich beruhigt hatte.
„Du heisst Dast?“, fragte Karo und zeigte auf ihn.
„Dast“, wiederholte dieser, blickte aufs Wasser und wedelte nachdrücklich mit der linken Hand.
Karo folgte dem Blick und verstand. Zwei Schritte neben dem Mann lag sein Bündel, daneben ein leerer Wasserbeutel. Er füllte ihn am nahen Fluss und reichte ihn dem Fremden, der mit gierigen Schlucken trank.
Karo wühlte in den Taschen seiner Jacke und förderte zwei getrocknete Apfelringe und einen Streifen geräuchertes Ziegenfleisch zutage. Beides bot er dem Fremden an. Zum ersten Mal zeigte dieser den Anflug eines Lächelns, als er das Essen annahm.
„Dank.“
„Bitte.“
Ermutigt durch diesen Erfolg versuchte Karo erneut, mit dem Fremden zu reden. Dabei erfuhr er, dass dieser Walda hiess, aber das war es dann auch. Zu gerne hätte er erfahren, ob er allein war, ob er Freunde in der Nähe hatte oder - davor fürchtete sich Karo am meisten - ob seine Feinde noch auf ihn lauerten. Doch weder seine Worte noch seine Gesten wurden von diesem verstanden.
Schliesslich versuchte er, ihm mit Worten und Handzeichen klar zu machen, dass er das Kanu holen und ihn in sein Dorf bringen wollte, doch auch das verstand der Fremde nicht. Also begnügte er sich damit, ihm beruhigend auf die Schulter zu klopfen. Dann ergriff er seine Waffen und ging zu seinem Kanu.
Der Weg flussaufwärts war eine mühselige Plackerei. Paddelnd kam er gegen die Strömung nicht an, deshalb hangelte er sich durch das Unterholz am Ufer und zog das Kanu hinter sich her. Einmal brach ein Ast, und er fiel in den Fluss und trieb fast den gesamten Weg zurück, den er sich schon erkämpft hatte.
Doch schliesslich hatte er es geschafft. Wenige Schritte oberhalb des Verletzten fand er eine junge Weide, an der er sein Boot anbinden konnte. Er gab gerade so viel Leine, dass es direkt neben diesem zu liegen kam.
Er kletterte die Böschung hoch. Der Fremde lag noch am gleichen Ort. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Atem ging flach und rasselnd, und er reagierte auch nicht auf Karos Rütteln. Also warf Karo sein Bündel ins Boot. Dann zog er den Fremden an den Schultern ans Wasser. Jedesmal, wenn sich sein Bein bewegte, entrang sich seiner Kehle ein Stöhnen, doch er kam nicht mehr zu Bewusstsein. Als es Karo endlich gelungen war, den Fremden ins Kanu zu hieven, waren seine Beine taub wegen der Kälte des Wassers. Am Oberkörper hingegen triefte ihm der Schweiss aus allen Poren. Er machte die Leine los und paddelte so schnell er konnte zurück zu seinen Freunden.
Als sie das Dorf endlich erreicht hatten, war es früher Nachmittag, und die Versammlung noch immer in vollem Gang. Boro, der Dorfälteste, stand sofort auf, als sie das Nordtor passierten, und wollte sie wieder wegschicken, denn abgemacht war, dass sie erst kurz vor dem Eindunkeln heimkehren sollten. Doch dann bemerkte er, dass die Jungen eine improvisierte Bahre aus den Stämmchen junger Tannen zwischen sich trugen, und hielt inne.
Neugierig trat er näher. Karo, Matu und die beiden anderen Jungen, die den Verletzten das letzte Wegstück geschleppt hatten, setzten die Bahre entkräftet ab. Boro beugte sich tief über den verletzten Mann und musterte ihn von oben bis unten.
„Ein Fremder“, sagte er, mehr zu sich als zu den anderen Erwachsenen, die inzwischen ebenfalls näher gekommen waren. „Wo habt ihr ihn gefunden?“
Karo erzählte seine ganze Geschichte: Die Kaninchenjagd, die Geräusche vom anderen Flussufer, seine vergeblichen Versuche, mit dem Fremden zu reden, der anstrengende Weg zurück. Als er geendet hatte, blickte er Boro erwartungsvoll an. Dieser schwieg lange. Dann sagte er so laut, dass alle es hören konnten: „Du hast richtig gehandelt.“
Jetzt drängte sich Nala durch die dicht stehende Menge und kniete sich neben dem immer noch Bewusstlosen nieder. Nala war die Heilerin des Dorfes. Sie war weder jung noch alt und lebte seit dem Tod ihres Mannes allein in ihrer Hütte. Die beiden Töchter die ihr geblieben waren, hatten schon längst eigene Familien gegründet. Solange sie den Blick abgewendet hielt, war sie keine eindrucksvolle Erscheinung. Eher kleingewachsen, die Schultern schmal und hängend, die Haare meist zu einem langen Zopf geflochten. Doch wenn sie einen ansah, schlug sie jeden sofort in ihren Bann. Ihre Augen waren reine Güte und reines Verstehen.
Sie legte die Hand auf die Stirn des Fremden, um seine Temperatur zu fühlen. Danach suchte sie an seinem Hals nach dem Puls und legte ihr Ohr an seinen Mund, um die Atmung abzuhören. Schliesslich wandte sie sich dem verletzten Bein zu. Ganz lange besah sie sich die Wunde nur. Dann roch sie daran, drückte vorsichtig auf die aufgeschwollenen Ränder und zog schliesslich ganz leicht am abgebrochenen Pfeil, was dem Fremden sofort ein leises Stöhnen entlockte. Offenbar befriedigt erhob sie sich und sagte: „Bringt ihn in meine Hütte.“ Dann, als sie bemerkte, dass alle Dorfbewohner sie neugierig musterten, fügte sie hinzu: „Ich glaube, er wird überleben.“
Sie nahmen die Bahre wieder auf und trugen sie zu Nalas Hütte. Da Nala allein lebte, hatte sie die Trennwände, die bei Familien normalerweise die Schlafkojen abtrennten, herausgenommen, was die Hütte grösser wirken liess. Ihre Bettstatt stand nahe beim Ofen. Direkt daneben, im dämmrigen Zwielicht kaum zu erkennen, gab es einen Durchbruch, der in einen Anbau führte. Dort befand sich das Krankenlager. Das Bett war direkt an die Rückwand des Steinofens gestellt, so dass Kranke und Verletzte auch im tiefen Winter nicht frieren mussten. Eine Ecke des Raumes war durch eine Holzwand abgetrennt. Dahinter, wusste Karo, befanden sich die Heilmittel: lange Regalreihen, voll mit getrockneten Kräutern, Salben, Ölen und Tinkturen. Schon oft hatte er hier gestanden und gewartet, bis ihm Nala ein Mittel gegen Fieber, Prellungen, Schnittwunden oder was immer ihn plagte zusammengestellt hatte.
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