Holgers Beerdigung fand im Kreis unserer Freunde statt. Als sein Testament eröffnet wurde, wohnte ich glücklicherweise nicht mehr zu Hause. Zu dem Termin hatte ich eigens dienstfrei erhalten und amüsierte mich köstlich über die Herren Möchtegernerben. Die schienen im Sitzen gestorben zu sein und würdigten mich keines Blickes mehr. Nach dem Notartermin habe ich niemanden der Mischpoche wieder gesehen.«
Sonja schaute mich nachdenklich an. »Mein lieber Schwan.«
»Wieso Schwan?«
»Ich habe lange nicht mehr jemanden getroffen, der Menschen so sehr hasst wie du deine Leute. Ich dachte immer, ich wäre eine Ausnahme wegen meines Familienhasses«, gestand Sonja.
»Meine Mischpoche sind einfältige Holzköpfe, allesamt. Der Einzige, der wirklich was getaugt hat, war Holger Lenz. Der hat überdies gewusst, wie es in einem Pfaffen aussieht, zumindest von hinten. Ich rede manchmal sogar mit ihm. Sein Tod hat mich ärmer gemacht. Quatsch, nicht nur mich, schau dir mal das Bild an. Da über dem Bett im Bilderrahmen. Kannst du das lesen?«
»Den Text? Boah, ist doch Englisch.« Sonja verzog den Mund.
»Soll ich ihn für dich übersetzen?«
»Ja, bitte.«
Die Welt zerbricht jeden,
und nachher sind viele an den gebrochenen Stellen stark.
Aber die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie.
Sie tötet die sehr Guten und die sehr Feinen
Und die sehr Mutigen ohne Unterschied.
Wenn du nicht zu diesen gehörst,
kannst du sicher sein, dass sie dich auch töten wird.
Aber sie wird keine besondere Eile damit haben.
»Wo ist das her?«, fragte Sonja.
»Das Bild habe ich von Holger. Hat er in einem Buch gelesen und selbst angefertigt. Das Buch hat er mir geschenkt, der deutsche Titel lautet: In einem anderen Land. Hat Ernest Hemingway geschrieben.«
Sonja überlegte, dann erhellte sich ihr Blick.
»Fällt mir wieder ein, kenne ich noch aus dem Unterricht. Wir haben in Deutsch mal eine Zusammenfassung über das Buch schreiben müssen – fand ich ziemlich schwierig. Aber die Geschichte ist sehr gefühlvoll und hat mir super gefallen.«
»Mir auch, von allein wäre ich kaum an diese Art Literatur gekommen. Holger las unheimlich viele Bücher und kannte einen Haufen Künstler. Maler, Schreiber, Musiker und so weiter. In seiner Wohnung habe ich manchmal Leute getroffen, die sehr bekannt waren, die mich trotzdem behandelten, als wäre ich kein einfacher junger Bursche ohne Ahnung, sondern beinahe ein Mensch wie sie. Stundenlang habe ich ihnen zugehört. Und auf seinen Reisen traf Holger laufend Künstler jedweden Genres. Unter anderem hatte er einen Bekannten, der ihn zwar nie besuchte, mit dem Holger aber ab und zu telefonierte. Und zwei oder drei Mal habe auch ich mit ihm geredet. Das ist vielleicht ein komisches Gefühl kann ich dir sagen. Und der Mann hat mir von Hemingway erzählt, als ich gerade dieses Buch las. Persönliche Dinge und so.«
»Ach Achim, das glaubt dir kein Mensch. Woher will ein Freund von euch das wissen? Hat der den Hemingway etwa persönlich gekannt?« Sonja lachte mich richtiggehend aus.
»Na ja, er war damals eher Holgers Freund. Ich war doch noch ein Milchbubi, wir haben uns später angefreundet, als Mom abgehauen war. Egal, der hat Hemingway auf jeden Fall als Kollegen sehr bewundert, hat er mir selber gesagt.«
»Als Kollegen? Ach jetzt kapiere ich erst, du alberner Aufschneider«, lachte Sonja und winkte ab. »Du willst mich auf die Rolle nehmen. Meinst du wirklich, es macht dich interessanter, wenn du so tust, als ob du in der Welt der Großen und Berühmten zu Hause wärst? Eigentlich mag ich dich, weil du nicht einer von den blasierten Angebern mit Geld, Anzug und Protzauto bist. Komischer Tag heute.«
Sonjas etwas zigeunerhafte Ausstrahlung fesselte mich von der ersten Sekunde an, seit sie mich um ein paar Fritten gebeten hatte. Zigeunerhaft meine ich nicht im Sinn des Vagabunden, sondern sie wirkte auf mich gleichzeitig traurig, lebhaft, wissend und unersättlich nach dem Leben. Ich hatte ständig das Gefühl, sie habe etwas Überirdisches an sich. Trotzdem sie gar nicht so aussah, wie ich mir immer einen Engel oder so was vorgestellt hatte. Weder trug sie lange blonde Locken, noch Flügel oder gar einen Zauberstab. Auch kein unschuldig anmutendes weißes Nachthemd. Der grob gestrickte Pullover, den sie anhatte, war leider nicht annähernd so durchsichtig, wie ich es mir gewünscht hätte. Das slawische Gesicht mit den hohen Backenknochen erschien im Zusammenspiel mit den fesselnden Augen magisch anziehend. Pechschwarzes, glattes Haar umrahmte es. Die frauliche Gestalt beeindruckte mich und die Üppigkeit der Oberweite passte genau genommen nicht zu der im Gesamten äußerst zierlichen Figur.
Aber nicht nur ihr Äußeres interessierte mich brennend. Ihr Alter konnte ich nicht einschätzen. Sie mochte zwanzig Jahre alt sein oder auch wesentlich älter. Falten, nein, lediglich Fältchen konnte ich entdecken, wenn sie lächelte. Mich faszinierte viel mehr ihre lebendige Ausstrahlung. Der Gesamteindruck ihrer Person blieb rätselhaft und derart reizvoll, dass ich in jenem Augenblick nicht mal hätte aufstehen können, ohne meinen niedrigen Tisch, der bis zum Nabel reichte, umzuschmeißen.
»Was starrst du mich so an?«, fragte Sonja. »Du ziehst mich ja geradezu mit Blicken aus. Ach so, jetzt kommt der Preis für den Tag heute, ich verstehe. Nur zu, bediene dich, die paar Minuten werde ich bestimmt überleben.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht im Programm. Selbst wenn ich dich jetzt zwingen würde, mit mir zu baden, käme ich mir schmutzig vor.«
Sie prustete in ihren Rotwein, was ich nicht sehr nett fand. Dann erhob sie sich. »Baden ist eine echt geile Idee. Komm.«
Im Badezimmer störte mich am meisten der leider unaufgeräumte Zustand. Als Junggeselle ist man schließlich nicht ständig auf solche Zufälle eingerichtet. Sonja schien das hingegen wenig zu stören. Sie genoss das heiße Wasser und ich war nervös. Nicht nur, weil ich auf dem Abflussstopfen saß. Sie lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Feucht schimmernd, im Badewasser schwebend, wirkten ihre Rundungen noch aufregender. Schlanke Beine, ein wenig Bauch, dort, wo er hingehört, zwei Handvoll Hüfte und frauliche feste Brüste – allein über Sonjas Brüste könnte ich lange erzählen. Busenfetischist der ich war, äh bin.
Wir lagen schließlich im Bett. Nein, stimmt nicht. Ich lag im Bett, Sonja auf der Luftmatratze. Zunächst hatte ich an einen Scherz geglaubt, als sie, statt neben mir unter der Decke zu verschwinden, ins Notbett kroch. Überlegen grinsend hatte ich mich zugedeckt. Aber so lange ich auch wartete, dass Sonja zu mir kam, sie rührte sich nicht.
Nach einer Weile setzte ich mich auf und schaute auf die Luftmatratze hinunter, auf der Sonja unter die Decke gekuschelt lag. Und das ohne mich!
»Ich wünsche dir eine Gute Nacht«, sagte ich.
»Hm«, lautete die schläfrige Antwort.
Dass Frauen meist ein hübscher Anblick sind, muss ich nicht erzählen, aber mit einer hübschen Frau nackt in der Badewanne zu spielen und danach getrennt auf Bett und Luftmatratze zu liegen, schmeckte sehr danach, dass ich wieder mal irgendetwas falsch gemacht haben musste. Und wenn ich noch drei Leben zur Verfügung haben würde, ich kapiere wohl niemals, was in Frauen vorgeht.
Ich lag also unter meiner einsamen Decke, fror und schwitzte gleichzeitig und haderte mit dem Schicksal. Hoffnungslos. Hexe die!
Die Gedanken an das gemeinsame Bad ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Ich wälzte mich hin und her. Ich hörte ein leises Kichern. Dann lehnte sich Sonja auf meinen Bettrand und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Ich tat so, als würde ich schlafen.
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