Dass die Tomatensoße für mich einen eher schwachen Eindruck hinterließ, behielt ich für mich. Was soll es, dachte ich, ist es vielleicht meine Trattoria?
Holger arbeitete sich von der Mitte der Pizza nach außen vor. Nach wenigen Happen schnitt er kleinere Stücke ab. Kaute an jedem Fitzelchen immer länger und länger.
›Schmeckt’s nicht?‹, wollte ich wissen.
›Doch. Schmeckt wirklich gut. Beinahe wie in alten Zeiten. Ich fühle nur den nächsten Schub kommen. Außerdem bin ich satt, habe mich wohl ein bisschen übernommen.‹
Er legte das Besteck vorsichtig beiseite und schaute auf die Menschen, die an dem Lokal vorbeiströmten. Holgers Augen waren in ständiger Bewegung, schienen jede Kleinigkeit wahrzunehmen, wollten nichts verpassen. Nicht ein Muskel in seinem Gesicht oder am Körper zuckte. Der Kopf lag leicht auf Zeigefinger und Daumen der linken Hand gestützt. Sich selbst und seine nächste Umwelt hatte Holger völlig vergessen, so schien es. Nur die Nuancen der unerreichbaren Normalwelt wirkten auf den Schwerkranken.
Holger nahm Abschied. Das kapierte ich urplötzlich, schwieg, beobachtete ihn und bemerkte erschrocken die Veränderung an ihm. Er ließ die Unterlippe ganz langsam sinken, seine Wangen fielen ein. Der Kopf neigte sich stetig. Keine Träne, kein Wort, nichts. Es schien, als würde der Mensch ins Nichts versinken.
In Gedanken sah ich einen Sarg, Holgers bleiches Gesicht darin. Der Deckel wird über ihm geschlossen und zugeschraubt. Kränze liegen wie Autoreifen gestapelt übereinander. Der Sarg wird mechanisch in einen überdimensionierten Ofen gezogen und beginnt unter den Gasflammen zu brennen. Holgers kurzes Haar knistert und versprüht ein paar Funken. Der abgemagerte Körper bäumt sich ein letztes Mal auf, als würde er vor der Hitze fliehen wollen, unter der Haut beginnt das Wasser zu kochen. Es bilden sich Blasen, die platzen, das Wasser verdampft und der Rest zerfällt zu verkohltem Nichts.
Holger wandte mir sein Gesicht zu, schaute mich an und nickte. ›Ich sehe schon aus wie eine Leiche in der Kiste, was?‹, sagte er und atmete aus, als würde er aufstoßen. Der kraftlose Mund versuchte zu lächeln. Dann rutschte Holger vom Stuhl, schlug stumpf mit dem Kopf auf die Betonplatten und blutete sofort stark aus der Wunde.
Mit dem Notarztwagen wurde er zur Intensivstation der Landesklinik befördert. Besuche waren erst gestattet, nachdem Holger ins Sterbehaus transportiert worden war.
›Wenn Sie Herrn Lenz noch mal lebend sehen möchten‹, sagte man mir einen oder zwei Tage später am Telefon, ›dann kommen Sie bitte recht bald.‹
Ich hatte Laura von Holgers Zustand erzählt und sie hatte offenbar die Schwulenszene informiert. Männer aller Altersklassen, denen man ansah, welche Vorlieben sie pflegten, standen um Holgers Krankenbett. Eine seltsam familiäre Stimmung schwang im Raum. Einer nach dem anderen hielt kurz Holgers Hand, drückte sie leicht und trat dann zurück, um dem Nächsten Platz zu machen. Die Schwäche zog Holger immer wieder in kurzen Schlaf hinab.
Als es dämmerte, schlug er noch einmal die Augen auf und verzog den Mund, als wäre er zerknirscht. Er versuchte zu sprechen, aber kein Laut kam über seine fahlen Lippen. Eine Pflegerin forderte uns auf, das Krankenzimmer zu verlassen, um den Patienten nicht weiter zu schwächen.
Manche der Besucher winkten beim Verlassen des Raumes schüchtern, manche hielten sich an den Händen. Einige weinten. Ich selbst fühlte mich hilflos und leer.«
»Und wann bekam er seine letzte Ölung?«, fragte Sonja ungeduldig.
Ich musste automatisch lachen. »Dazu komme ich gleich, erst muss ich eine Begebenheit aus dem Familienrat erzählen. Holger verfiel zwar schneller und schneller, aber für die potenziellen Erben eben nicht schnell genug. Weder Reinhold noch mein Alter hatten sich bisher zu einem Besuch in solch einer unglaublichen Einrichtung , wie sie sagten, entschließen können. Nur deswegen war es mir ja überhaupt möglich gewesen, Holger zu besuchen, ohne auf den Widerstand der beiden Herren zu stoßen. Schließlich stand der gute Ruf der Familie auf dem Spiel. Aber nun hatte der Informant des Hospizes meinen Onkel Reinhold Lenz, vom jetzt wirklich unmittelbar bevorstehenden Ende des Patienten informiert. Aufgeregt erschien der bei uns zu Hause. Erleichterung lag in den Gesichtern der beiden Männer. Holgers Vermögen lag in greifbarer Nähe – oder zumindest der Rest davon. Am selben Abend rief Reinhold beim Betreuungsbüro an. Das Telefon hatte er auf Lautsprecher gestellt, damit mein Alter mithören könne. Ich stand in meinem Zimmer und hatte die Tür nur angelehnt, so konnte ich das Gespräch verfolgen.
›Wir sind die Erben von Herrn Holger Lenz, Ihrem Betreuten. Wir müssen unbedingt sofort wissen, wie seine Vermögenslage derzeit aussieht.‹
Einige Sekunden schwieg der Apparat.
›Sind Sie noch da?‹ Reinhold Lenz sprach energischer.
› Worum geht es?‹
›Mein lieber Mann, wir sind die Erben von Holger Lenz. Das ist doch Ihr Betreuter, oder wie man das nennt.‹ Die Stimme stieg um eine Oktave.
Am anderen Ende der Leitung schwang Gelassenheit. ›Erstens bin ich nicht Liebermann, mein Name ist Göttlich, Ulrich Göttlich. Zweitens, was soll das heißen, Erben von Holger Lenz? Ich habe ihn heute besucht. Ihm geht es zwar nicht gut, aber er lebt. Und solange mir das Ableben des Betreuten nicht mitgeteilt wird ...‹
›Gehüpft wie gesprungen. Wir haben Nachricht erhalten, dass es Zeit wird für die letzte Ölung. Das kostet doch auch bei so einem nichts, oder? Egal wie, wir zahlen das auf jeden Fall nicht. Also decken Sie schon die Karten auf. Wie viel Geld ist vorhanden? Klare Frage, klare Antwort!‹
›Am Telefon gebe ich solche Auskünfte generell nicht. Könnte ja jeder kommen. Ferner bin ich der Auffassung, dass es außer Herrn Lenz selbst, mich oder den Rechtspfleger niemanden etwas angeht, wie seine finanzielle Situation aussieht.‹
Reinhold Lenz war aufgesprungen und hatte dabei fast den Telefonapparat vom Tisch gerissen. Die Stimme kippte. ›Sie Flegel! Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben? Wir haben ein Recht darauf, alles zu erfahren. Wir sind schließlich die Erben!‹
›Was oder wer Sie sind, ist nicht nur mir – mal sehr gelinde gesagt – gleichgültig. Ich vertrete die Interessen meines Betreuten. Es steht Ihnen selbstverständlich frei, sich dies vom Amtsgericht bestätigen zu lassen. Guten Tag.‹
Ich konnte geradezu hören, wie Ulrich Göttlich den Hörer sanft auf die Gabel legte. Reinhold knallte seinerseits den Hörer auf den Apparat und bebte vor Zorn. Dafür, stammelte er, war man nun Offizier gewesen, dass man so behandelt wurde. Na, dem Herrn würde man es schon zeigen. Telefonbuch her. Buchstabe A, wie Amt, hier steht es ja, Amtsgericht. Hastig wurde die Nummer gewählt. Warten, endloses Warten. Dann endlich eine menschliche Stimme. Dass es sich um die künstliche Stimme des Automaten in der Zentrale handelte, realisierten die wütenden Herren nicht. Reinhold redete in seiner Wut drauflos: ›Es geht um die Sache Lenz, wir sind die Erben. Hallo, hallo hören Sie!‹
›... ist es nicht möglich eine Nachricht zu hinterlassen. Für Abgabefristen einhaltende Unterlagen stehen Ihnen die Terminbriefkästen des Amtsgerichtes zur Verfügung, die permanent geleert und die eingegangenen Schriftstücke mit einem Uhrzeitvermerk versehen werden.‹
Wieder wurde der unschuldige Hörer von Reinhold Lenz auf die Gabel geworfen. ›Da ist keiner mehr im Amtsgericht. Da läuft nur ein Band, kein Notdienst. So weit sind wir in Deutschland inzwischen, nicht mal mehr die Behörden sind erreichbar. Unfasslich.‹
›Und wenn du die Polizei anrufst?‹, drängte mein Alter in seiner grenzenlosen Naivität.
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